KI-2/12 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Verwaltungsgerichtshof ist zur Entscheidung über die Beschwerde der Gemeinde Achau gegen den Bescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 7. April 2010, Z BMVIT-820.301/0003-IV/SCH2/2010, zuständig.
II. Der entgegenstehende Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Oktober 2010, Z2010/03/0059, 0064, wird aufgehoben.
III. Der Bund (Verwaltungsgerichtshof) ist schuldig, der antragstellenden Partei zu Handen ihrer Rechtsvertreter die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
I.
1. Mit dem auf Art138 Abs1 Z1 B-VG und §46 Abs1 VfGG gestützten Antrag wird die Entscheidung eines negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Verwaltungsgerichtshof und dem Unabhängigen Umweltsenat begehrt. Diesem Begehren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
1.1. Mit Bescheid vom 7. April 2010 erteilte die Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die von der mitbeteiligten Partei beantragte Genehmigung u.a. nach den Bestimmungen des UVP-G 2000, des Hochleistungsstreckengesetzes und des Eisenbahngesetzes für das Vorhaben "ÖBB-Strecke Wien Matzleinsdorf (Meidling) - Wiener Neustadt, zweigleisiger Ausbau der Pottendorfer Linie im Abschnitt Hennersdorf - Münchendorf" und "ÖBB-Strecke Wien Zvbf. - Felixdorf, Trassenverschwenkung Aspangbahn".
1.2. Die dagegen erhobenen Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof, u.a. jene der antragstellenden Partei, wurden von diesem mit Beschluss vom 21. Oktober 2010, 2010/03/0059, 0064, mit der Begründung zurückgewiesen, dass gegen den bekämpften Bescheid noch das Rechtsmittel der Berufung an den Unabhängigen Umweltsenat zulässig sei. Dabei verwies der Verwaltungsgerichtshof auf seinen Beschluss vom 30. September 2010, 2010/03/0051, 2010/03/0055, in dem er Näheres zur Frage der unionsrechtlichen Anforderungen an den Rechtsschutz in Genehmigungsverfahren nach dem UVP-G ausgeführt hatte. Weiters wies der Verwaltungsgerichtshof auf die Möglichkeit der Einbringung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Erhebung einer Berufung an den Unabhängigen Umweltsenat hin.
1.3. Dem daraufhin von der antragstellenden Partei gestellten, mit der Einbringung der Berufung gegen den Genehmigungsbescheid vom 7. April 2010 verbundenen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wurde mit Bescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 25. Mai 2011 stattgegeben und die Wiedereinsetzung bewilligt. Gleichzeitig übermittelte diese Behörde die Berufung und die damit in Zusammenhang stehenden Verwaltungsakten an den Unabhängigen Umweltsenat.
1.4. Mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs vom 5. Oktober 2011, B823/11, wurde der gegen diesen Bescheid erhobenen, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde der mitbeteiligten Partei stattgegeben und wurde der Bescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 25. Mai 2011 auf Grund der Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter aufgehoben.
1.5. In der Folge wies der Unabhängige Umweltsenat mit Bescheid vom 14. Dezember 2011 die Berufung der antragstellenden Partei gegen den Genehmigungsbescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 7. April 2010 mangels Zuständigkeit des Unabhängigen Umweltsenats als unzulässig zurück. Dazu führt der Unabhängige Umweltsenat Folgendes aus:
"Wie der Verfassungsgerichtshof in seinen
Erkenntnissen vom 28.6.2011, Zl. B254/11, und vom 26.9.2011, Zl. KI-1/11, umfassend dargelegt hat, ist der Umweltsenat in Angelegenheiten des dritten Abschnitts des UVP-G 2000 zufolge der in §40 Abs1 UVP-G 2000 normierten Beschränkung der Zuständigkeit, somit zur meritorischen Entscheidung über die vorliegenden Berufungen nicht zuständig.
Nach ständiger Rechtsprechung (vgl VwSlg 14.475 und andere) sind nach §6 Abs1 AVG bei einer unzuständigen Behörde eingelangte Anträge oder Berufungen an die zuständige Behörde durch formlose Verfügung weiterzuleiten. Ein Anbringen ist aber zurückzuweisen, wenn eine Partei auf der Zuständigkeit der Behörde beharrt, die Unzuständigkeit der Behörde zweifelhaft ist oder für das Anbringen keine andere Behörde zuständig ist. Unter diesen Voraussetzungen sind daher die Berufungen zurückzuweisen (vgl US 3A/2011/1A-5 vom 20.7.2011, Brenner Basistunnel und US 3B/2011/12-7 vom 2.12.2011, Angerschluchtbrücke)."
2. Die antragstellende Partei stützt den Antrag auf den Umstand, dass sich sowohl der Verwaltungsgerichtshof als auch der Unabhängige Umweltsenat für unzuständig erklärt hätten. Es wird beantragt, über den Kompetenzkonflikt zu entscheiden, den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Oktober 2010, 2010/03/0059, 0064, aufzuheben und der antragstellenden Partei die durch das Verfahren entstandenen Kosten "im gesetzlichen Ausmaß" zu ersetzen.
3. Der Unabhängige Umweltsenat sowie der Verwaltungsgerichtshof übermittelten jeweils die Bezug habenden Verwaltungs- bzw. Beschwerdeakten und sahen von der Erstattung einer Äußerung zum vorliegenden Antrag ab.
II.
Der Verfassungsgerichtshof hat über den - zulässigen (vgl. dazu VfGH 26.9.2011, KI-1/11) - Antrag erwogen:
1. Gemäß Art138 Abs1 Z1 B-VG iVm §46 Abs1 VfGG
besteht ein vom Verfassungsgerichtshof zu entscheidender verneinender Kompetenzkonflikt u.a. dann, wenn ein Gericht und eine Verwaltungsbehörde ihre Zuständigkeit in derselben Sache verneint haben, obwohl eine der beiden Behörden zuständig gewesen wäre.
2. Zu klären ist, ob der Verwaltungsgerichtshof oder der Unabhängige Umweltsenat seine Zuständigkeit in der Sache zu Unrecht verneint hat. Maßgeblich für die Beurteilung dieser Frage ist, ob der Anwendung der in §40 Abs1 UVP-G 2000 und §5 USG vorgesehenen Beschränkung der Zuständigkeit des Unabhängigen Umweltsenates auf Angelegenheiten des ersten und zweiten Abschnitts des UVP-G 2000 der Vorrang des Unionsrechts entgegensteht, wie es der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom 21. Oktober 2010 unter Verweis auf seinen Beschluss vom 30. September 2010, 2010/03/0051, 2010/03/0055, angenommen hat.
3. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits mit näherer Begründung in den Erkenntnissen vom 28. Juni 2011, B254/11, sowie vom 5. Oktober 2011, B823/11, ausgesprochen hat, erfüllt der Verwaltungsgerichtshof bei verfassungs- und konventionskonformer Wahrnehmung seiner gesetzlichen Befugnisse zur Sachverhaltskontrolle die Anforderungen an ein Gericht mit hinreichender Kontrollbefugnis in Tatsachenfragen iSd Art6 Abs1 EMRK und iSd Art47 Abs2 Grundrechtecharta (vgl. EGMR 21.9.1993, Fall Zumtobel, Appl. 12.235/86, ÖJZ 1993, 782, uvam., jüngst EGMR 10.12.2009, Fall Koottummel,
Appl. 49.616/06; vgl. VfSlg. 15.427/1999, 18.309/2007, 18.446/2008, 18.927/2009; vgl. auch EuGH 21.1.1999, Rs. C-120/97, Upjohn Ltd., Slg. 1999 I-00223, und 22.5.2003, Rs. C-462/99, Connect Austria, Slg. 2003 I-05197).
Insbesondere verwehrt §41 Abs1 VwGG dem Verwaltungsgerichtshof in Verfahren nach Art131 Abs1 Z1 B-VG die Überprüfung von Tatsachenfeststellungen und -annahmen der Behörde nicht. Die Vorschriften des §41 Abs1 iVm §42 Abs3 VwGG ermöglichen es dem Verwaltungsgerichtshof, in einer mit dem gerichtlichen Verfahren vergleichbaren und wirksamen Weise ausreichende Tatsachengrundlagen zu erarbeiten, um die maßgebliche Rechtsfrage beurteilen zu können (VfGH 28.6.2011, B254/11).
4. Zur Erfüllung des Gebots wirksamen Rechtsschutzes ist im vorliegenden Zusammenhang daher keine Vorschrift des Unionsrechts unmittelbar anzuwenden, welche die Zuständigkeit einer unabhängigen Verwaltungsbehörde herbeiführen und jene des Verwaltungsgerichtshofes zur Entscheidung über die Beschwerde gegen den Genehmigungsbescheid im Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahren beseitigen würde.
Angesichts dessen hätte der Verwaltungsgerichtshof über die Beschwerde der antragstellenden Partei gegen den Genehmigungsbescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie vom 7. April 2010 eine Sachentscheidung treffen müssen.
III.
1. Der Verwaltungsgerichtshof hat dadurch, dass er die Beschwerde der antragstellenden Partei gegen den Genehmigungsbescheid vom 7. April 2010 zurückgewiesen hat, seine Zuständigkeit in der Sache zu Unrecht abgelehnt.
2. Es ist daher auszusprechen, dass die Entscheidung über die gegen den Genehmigungsbescheid der Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie gerichtete Beschwerde in die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes fällt. Der entgegenstehende Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes ist aufzuheben.
3. Der Kostenausspruch gründet sich auf §52 VfGG. Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- und die Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 220,-- enthalten.
4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.