JudikaturVfGH

U1515/12 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
10. Oktober 2012

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Die Entscheidung wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.620,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Armeniens, brachte am 2. November 2011 beim Bundesasylamt einen Antrag auf internationalen Schutz ein, wobei sie begründend ausführte, dass sie als Reinigungskraft im Rathaus von Echmiazin gearbeitet habe. Als aus einem Büro in einem Safe aufbewahrtes Geld verschwunden sei, sei sie von Bediensteten des Rathauses sowie vom Bürgermeister aufgefordert worden, das Geld wieder zurückzuzahlen. Nachdem sie dieser Forderung nicht nachgekommen sei, sei sie vergewaltigt und ihr gedroht worden, dass ihr bei weiterer Weigerung, die Summe zurückzuzahlen, beim nächsten Mal etwas Schlimmeres zustoßen werde. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9. Mai 2012 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin gemäß §3 Abs1 AsylG 2005 abgewiesen, ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Armenien gemäß §8 Abs1 Z1 leg.cit. nicht zuerkannt und die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien gemäß §10 Abs1 Z2 leg.cit. verfügt. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde am Asylgerichtshof der Gerichtsabteilung "E10", bestehend aus einem vorsitzenden Richter und einer beisitzenden Richterin, zur Behandlung zugewiesen und von diesem Senat ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Entscheidung vom 5. Juni 2012 gemäß §3, §8 Abs1 Z1 und §10 Abs1 Z2 AsylG 2005 abgewiesen. Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass näher bezeichnete Teile des Fluchtvorbringens als unglaubwürdig erachtet würden; es könne zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin Opfer einer Straftat, nämlich einer Vergewaltigung, geworden sei, jedoch könne "nicht festgestellt werden, dass es sich beim Täter bzw. [bei] den Tätern um die von der [Beschwerdeführerin] genannte Person handelte, welche aus den von der [Beschwerdeführerin] beschriebenen Motiven handelte".

2. In ihrer gegen diese Entscheidung gerichteten, auf Art144a B-VG gestützten Beschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

3. Der belangte Asylgerichtshof legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

II. Rechtslage

§20 AsylG 2005 lautet:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Asylgerichtshof gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesasylamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(3) Abs1 gilt nicht für Verfahren vor dem Kammersenat.

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §67e AVG."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB

VfSlg. 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002). Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zuständige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg. 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000 und 16.572/2002).

Der dem Art87 Abs3 B-VG nachgebildete Art129e Abs2 zweiter Satz B-VG statuiert auch für den Asylgerichtshof den "Grundsatz der festen Geschäftsverteilung" (vgl. VfSlg. 18.594/2008). Hier wie dort dient dieses Rechtsinstitut in erster Linie der Stärkung der Unabhängigkeit der davon betroffenen staatlichen Organe. Darüber hinaus steht diese Einrichtung aber auch in engem Zusammenhang mit dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter im Sinne des Art83 Abs2 B-VG, worunter nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes - über die Gerichtsbarkeit hinaus - ganz allgemein ein "auf den Schutz und die Wahrung der gesetzlich begründeten Behördenzuständigkeit" gerichtetes Recht (VfSlg. 2536/1953) zu verstehen ist. Im Geltungsbereich des verfassungsgesetzlich geregelten Prinzips der festen Geschäftsverteilung bedeutet diese Garantie darüber hinaus auch das Recht auf eine Entscheidung durch den gemäß der Geschäftsverteilung zuständigen Organwalter; in diesem Sinne handelt es sich bei der Geschäftsverteilung um eine - zuständigkeitsbegründende - Rechtsvorschrift (vgl. VfSlg. 14.985/1997; VfGH 29.11.2011, U1913-1915/10).

2. Die Beschwerdeführerin hat im Verfahren vor dem Bundesasylamt sowie in ihrer Beschwerde an den Asylgerichtshof als Fluchtgrund vorgebracht, in ihrem Herkunftsstaat vergewaltigt worden zu sein. Ein Verlangen im Sinne des §20 Abs2 iVm §20 Abs1 AsylG 2005 wurde nicht gestellt.

3. Am Asylgerichtshof wurde die Rechtssache der Geschäftsabteilung "E10", bestehend aus einem männlichen vorsitzenden Richter und einer weiblichen beisitzenden Richterin, zugewiesen. Unter Berufung auf Art41 Abs7 AsylG 2005 entschied dieser Senat ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit der Begründung, dass im gegenständlichen Fall schon auf Grund der sich aus den bisherigen Ermittlungen ergebenden objektiven Faktenlage feststehe, dass sich das Vorbringen der Beschwerdeführerin als zweifelsfrei nicht den Tatsachen entsprechend erweise.

4. Die Beschwerdeführerin wurde durch die

angefochtene Entscheidung aus folgendem Grund in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt:

4.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem

Erkenntnis vom 27. September 2012, U688-690/12, ausgesprochen hat, ist eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof geltend macht, - sofern der Asylwerber nichts anderes verlangt - gemäß §20 Abs2 AsylG 2005 gleich bei Beschwerdeanfall (und nicht nur bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung) einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen.

4.2. Der Asylgerichtshof hat, indem er im

vorliegenden Fall über die Beschwerde der Beschwerdeführerin, in der sie - wie auch schon im Verfahren vor dem Bundesasylamt - als Fluchtgrund vorgebracht hat, in ihrem Herkunftsstaat vergewaltigt worden zu sein, durch einen aus einer weiblichen Vorsitzenden und einem männlichen beisitzenden Richter bestehenden Senat in nichtöffentlicher Sitzung entschieden hat, die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, weil über ihre Beschwerde - ein Verlangen im Sinne des §20 Abs2 iVm Abs1 AsylG 2005 wurde nicht gestellt - durch einen aus zwei Richterinnen bestehenden Senat abzusprechen gewesen wäre (vgl. VfGH 27.9.2012, U688-690/12).

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben, ohne dass auf das Beschwerdevorbringen einzugehen war.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §88a iVm §88

VfGG. In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 220,- enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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