JudikaturVfGH

U1606/11 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
10. Oktober 2012

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Die Entscheidung wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.400,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe:

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, reiste im Jänner 2009 über Polen in die Europäische Union ein und stellte dort am 26. Jänner 2009 einen Asylantrag. Nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 17. Mai 2009 stellte die Beschwerdeführerin am folgenden Tag einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, wobei sie als Fluchtgrund im Wesentlichen angab, dass sie in Tschetschenien Opfer einer Vergewaltigung geworden und deshalb von ihrer Schwiegermutter aus dem Haus geworfen worden sei und ihre beiden Söhne bei dieser zurücklassen habe müssen. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 22. Juni 2009 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin gemäß §5 Abs1 AsylG 2005 wegen Zuständigkeit Polens zur Durchführung des Asylverfahrens als unzulässig zurückgewiesen und die Beschwerdeführerin aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Entscheidung des Asylgerichtshofes vom 16. Juli 2009 abgewiesen.

2. Am 19. November 2010 reiste die Beschwerdeführerin über die Schweiz, wo sie einen weiteren Asylantrag gestellt hatte, neuerlich in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 22. November 2010 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, wobei sie angab, im neunten Monat schwanger zu sein und bei ihrem nunmehrigen, in Österreich wohnhaften Ehemann leben zu wollen. Als Fluchtgrund gab sie im Wesentlichen an, dass ihr erster Ehemann erhebliche Probleme mit dem russischen Militär gehabt habe und deshalb in Tschetschenien gesucht werde. Sie sei deshalb ständig aufgesucht und nach ihrem ersten Ehemann befragt worden; beim letzten Besuch im November 2008 seien maskierte Männer gekommen, die sie geschlagen und vergewaltigt hätten. Weil eine solche Tat in Tschetschenien große Schande über die Familie bringe, sei sie deswegen aus der Familie verstoßen worden und die Familie ihres ersten Ehemannes hätte ihre Kinder weggenommen; sie befürchte Verfolgungshandlungen durch ihren Vater und ihren Bruder. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 4. März 2011 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.) und ihr der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 leg.cit. nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.); begründet wurde dies mit der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens der Beschwerdeführerin auf Grund ihrer widersprüchlichen, oberflächlichen und vagen Ausführungen. Die Ausweisung der Beschwerdeführerin aus dem Bundesgebiet wurde gemäß §10 Abs2 Z2 und Abs5 leg.cit. für auf Dauer unzulässig erklärt (Spruchpunkt III.). Die gegen die Spruchpunkte I. und II. dieses Bescheides erhobene Beschwerde, in der die Beschwerdeführerin neuerlich vorbringt, vergewaltigt worden zu sein und deshalb im Falle ihrer Rückkehr mit einem Ehrenmord rechnen zu müssen, wurde am Asylgerichtshof der Abteilung "D15", bestehend aus einer vorsitzenden Richterin und einem beisitzenden Richter, zugewiesen und von diesem Senat mit Entscheidung vom 14. Juni 2011 gemäß §3 Abs1 und §8 Abs1 Z1 AsylG 2005 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewiesen. Begründend wird u.a. in Bezug auf das Vergewaltigungsvorbringen ausgeführt, dass dieses auf Grund widersprüchlicher Angaben zu den Umständen der Vergewaltigung sowie des Fehlens von Angaben zu damit in Zusammenhang stehenden Schmerzen unglaubwürdig sei.

3. In ihrer gegen diese Entscheidung gerichteten und nach Bewilligung der Verfahrenshilfe eingebrachten, auf Art144 (gemeint wohl: Art144a) B-VG gestützten Beschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Begründend wird u.a. ausgeführt, dass es der Beschwerdeführerin, nämlich einer tschetschenischen Frau in einer muslimisch geprägten Gesellschaft, auf Grund ihres religiösen und kulturellen Hintergrundes schwergefallen sei, über das Vorgefallene zu sprechen, und der Asylgerichtshof dies bei der Beurteilung ihrer Angaben zur Vergewaltigung völlig außer Acht gelassen habe.

4. Der belangte Asylgerichtshof legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

II. Rechtslage

§20 AsylG 2005 lautet:

"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung

§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.

(2) Für Verfahren vor dem Asylgerichtshof gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesasylamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.

(3) Abs1 gilt nicht für Verfahren vor dem Kammersenat.

(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §67e AVG."

III. Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB

VfSlg. 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002). Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zuständige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg. 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000 und 16.572/2002).

Der dem Art87 Abs3 B-VG nachgebildete Art129e Abs2 zweiter Satz B-VG statuiert auch für den Asylgerichtshof den "Grundsatz der festen Geschäftsverteilung" (vgl. VfSlg. 18.594/2008). Hier wie dort dient dieses Rechtsinstitut in erster Linie der Stärkung der Unabhängigkeit der davon betroffenen staatlichen Organe. Darüber hinaus steht diese Einrichtung aber auch in engem Zusammenhang mit dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter im Sinne des Art83 Abs2 B-VG, worunter nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes - über die Gerichtsbarkeit hinaus - ganz allgemein ein "auf den Schutz und die Wahrung der gesetzlich begründeten Behördenzuständigkeit" gerichtetes Recht (VfSlg. 2536/1953) zu verstehen ist. Im Geltungsbereich des verfassungsgesetzlich geregelten Prinzips der festen Geschäftsverteilung bedeutet diese Garantie darüber hinaus auch das Recht auf eine Entscheidung durch den gemäß der Geschäftsverteilung zuständigen Organwalter; in diesem Sinne handelt es sich bei der Geschäftsverteilung um eine - zuständigkeitsbegründende - Rechtsvorschrift (vgl. VfSlg. 14.985/1997; VfGH 29.11.2011, U1913-1915/10).

2. Die Beschwerdeführerin hat im Asylverfahren

mehrfach vorgebracht, in ihrem Herkunftsstaat vergewaltigt worden zu sein; sie hat diesbezügliche Angaben sowohl im Verfahren vor dem Bundesasylamt als auch in der Beschwerde an den Asylgerichtshof getätigt. Dass die Angaben zu den Umständen der Vergewaltigung allenfalls Unterschiede aufweisen, ändert nichts an dieser Tatsache, zumal aus den vorgelegten Akten klar hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens ein Vergewaltigungsvorbringen erstattet bzw. aufrecht erhalten hat. Ein Verlangen im Sinne des §20 Abs2 iVm §20 Abs1 AsylG 2005 wurde nicht gestellt.

3. Am Asylgerichtshof wurde die Rechtssache der Geschäftsabteilung "D15", bestehend aus einer weiblichen vorsitzenden Richterin und einem männlichen beisitzenden Richter, zugewiesen. Unter Berufung auf Art41 Abs7 AsylG 2005 entschied dieser Senat ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit der Begründung, dass der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt gewesen sei; insbesondere habe sich in der Beschwerde, in welcher die Beweiswürdigung des Bundesasylamtes nicht substantiiert bekämpft worden sei, kein zusätzlicher Hinweis auf die Notwendigkeit einer neuerlichen Erörterung des Sachverhaltes mit der Beschwerdeführerin ergeben.

4. Die Beschwerdeführerin wurde durch die

angefochtene Entscheidung aus folgendem Grund in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt:

4.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem

Erkenntnis vom 27. September 2012, U688-690/12, ausgesprochen hat, ist eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof geltend macht, - sofern der Asylwerber nichts anderes verlangt - gemäß §20 Abs2 AsylG 2005 gleich bei Beschwerdeanfall (und nicht nur bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung) einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen.

4.2. Der Asylgerichtshof hat, indem er im

vorliegenden Fall über die Beschwerde der Beschwerdeführerin, in der sie - wie auch schon im Verfahren vor dem Bundesasylamt - als Fluchtgrund vorgebracht hat, in ihrem Herkunftsstaat vergewaltigt worden zu sein, durch einen aus einer weiblichen Vorsitzenden und einem männlichen beisitzenden Richter bestehenden Senat in nichtöffentlicher Sitzung entschieden hat, die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, weil über ihre Beschwerde - ein Verlangen im Sinne des §20 Abs2 iVm Abs1 AsylG 2005 wurde nicht gestellt - durch einen aus zwei Richterinnen bestehenden Senat abzusprechen gewesen wäre (vgl. VfGH 27.9.2012, U688-690/12).

IV. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §88a iVm §88

VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,- enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

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