B555/12 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.620,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1.1. Der Beschwerdeführer, ein 1978 geborener
indischer Staatsangehöriger, reiste am 11. September 2000 unter Umgehung der Grenzkontrolle in Österreich ein. Am 13. September 2000 stellte er einen Antrag auf Gewährung von Asyl, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 11. Jänner 2001 abgewiesen wurde. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 9. Oktober 2001 abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Behandlung der dagegen eingebrachten Beschwerde mit Beschluss vom 21. März 2002 abgelehnt.
1.2. Das gegen den Beschwerdeführer in Folge eingeleitete Ausweisungsverfahren wegen unrechtmäßigen Aufenthalts in Österreich wurde aufgrund des vom Beschwerdeführer am 15. Dezember 2003 neuerlich gestellten Antrags auf Gewährung von Asyl keiner Enderledigung zugeführt. Der zweite Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 2. August 2004 wegen entschiedener Sache gemäß §68 Abs1 AVG zurückgewiesen.
1.3. Am 3. Mai 2005 heiratete der Beschwerdeführer eine österreichische Staatsbürgerin. Am 14. Juni 2005 stellte er einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß §49 Abs1 Fremdengesetz 1997, BGBl. I 75, und zog seine Berufung im zweiten Asylverfahren zurück. In Folge wurden Erhebungen im Hinblick auf das Vorliegen einer Aufenthalts- bzw. Scheinehe durchgeführt, das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbots jedoch eingestellt. Die Bundesministerin für Inneres (im Folgenden: BMI) hat der Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung an den Beschwerdeführer gemäß §72 iVm §75 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz 2005, BGBl. I 100 (im Folgenden: NAG), mit Schreiben vom 3. Mai 2007 mangels besonderer berücksichtigungswürdiger humanitärer Gründe nicht zugestimmt und neuerlich Erhebungen wegen des Verdachts auf Vorliegen einer Scheinehe veranlasst.
1.4. Der Landeshauptmann von Wien hat den Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels mit Bescheid vom 15. Jänner 2008 schließlich wegen unzulässiger Inlandsantragstellung abgewiesen. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid der BMI vom 29. April 2008 abgewiesen. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 5. Oktober 2010, Zl. 2008/22/0860 wurde dieser Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben, weil der Beschwerdeführer durch seinen langjährigen Aufenthalt nachhaltig gesellschaftlich integriert sei und familiäre Bindungen zu seiner österreichischen Ehefrau habe, weshalb die Inlandsantragstellung gemäß §74 NAG von Amts wegen zuzulassen gewesen wäre.
1.5. Die (erste) Ehe des Beschwerdeführers wurde mit Urteil vom 25. August 2010 geschieden. Am 20. Juli 2011 heiratete der Beschwerdeführer erneut eine österreichische Staatsbürgerin, weshalb ihm mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 18. Februar 2012 ein Aufenthaltstitel als Familienangehöriger gemäß §47 Abs2 NAG erteilt wurde.
1.6. Mit Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien (im Folgenden: BPD Wien) vom 27. März 2008 wurde der Beschwerdeführer gemäß §53 Abs1 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I 100 idF BGBl. I 4/2008 (im Folgenden: FPG "alt"), wegen unrechtmäßigen Aufenthalts aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Die dagegen erhobene Berufung wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion Wien vom 18. Februar 2011 abgewiesen. Die BMI hat diesen Berufungsbescheid mit Bescheid vom 12. Oktober 2011 von Amts wegen für nichtig erklärt und den Akt an den (nunmehr) zuständigen Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (im Folgenden: UVS Wien) weitergeleitet.
1.7. Mit Bescheid des UVS Wien vom 5. April 2012
wurde die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid der BPD Wien vom 27. März 2008 mit der Begründung abgewiesen, dass sich der Beschwerdeführer wegen der rechtskräftig negativen Beendigung seines Asylverfahrens, der Nichtgewährung eines Aufenthaltstitels und des Bestehens eines Rückkehrverbotes unrechtmäßig in Österreich aufhalte. Eine Ausweisung könne in einem solchen Fall gemäß §61 Abs1 und 2 FPG, BGBl. I 38/2011 (im Folgenden: FPG), erfolgen, wobei zur Beurteilung des Privat- und Familienlebens des Beschwerdeführers eine Abwägung iSv Art8 EMRK vorzunehmen sei. Trotz seines 11-jährigen Aufenthalts sei nicht von einem mit der Ausweisung verbundenen gravierenden Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers auszugehen. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich habe sich bereits nach der ersten Asylentscheidung als unberechtigt herausgestellt. Insgesamt sei das Ausmaß der persönlichen und familiären Integration des Beschwerdeführers in Österreich äußerst gering. Die Berufung sei daher abzuweisen.
Aus den Verwaltungsakten ergibt sich, dass der Beschwerdeführer am 20. Juli 2011 zum zweiten Mal eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet hat; ebenso ergibt sich die Einholung von Versicherungsdatenauszügen durch die belangte Behörde am 31. Jänner 2012, eine Anfrage beim Arbeitsmarktservice Wien und eine Anfrage zwecks Bekanntgabe sämtlicher verwaltungsstrafrechtlicher Vormerkungen an das Verkehrsamt der BPD Wien. Weiters wurden Anfragen an das Strafregisteramt und an das Zentrale Melderegister gerichtet.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, auf Achtung des Privat- und Familienlebens, eine Verletzung des Diskriminierungsverbotes nach Art14 EMRK und des Rechtsstaatsprinzips gemäß Art18 B-VG sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung verfassungswidriger Normen geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird. Die belangte Behörde habe während der gesamten Dauer des Berufungsverfahrens keinerlei Ermittlungstätigkeit durchgeführt, keine Verhandlung durchgeführt bzw. den Beschwerdeführer auch nicht zur Stellungnahme zum aktuellen Sachverhalt aufgefordert. Damit habe die belangte Behörde die Heirat des Beschwerdeführers mit einer österreichischen Staatsbürgerin am 20. Juli 2011 und die Tatsache, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel als Familienangehöriger erteilt worden sei, unberücksichtigt gelassen. Zudem habe sie nicht die aktuelle Rechtslage herangezogen, weil eine Ausweisung gemäß §53 FPG "alt" gemäß §125 Abs14 FPG nur als Rückkehrentscheidung gemäß §52 FPG ohne Einreiseverbot gemäß §53 FPG gewertet werden dürfe.
3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und keine Gegenschrift erstattet.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Soweit der Beschwerdeführer die Verletzung in Rechten wegen Anwendung verfassungswidriger Normen geltend macht und die amtswegige Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens anregt, so verkennt er, dass die Bestimmung des §60 Abs3 Z2 FPG im vorliegenden Fall nicht präjudiziell ist: Gegenstand des hier angefochtenen Bescheides ist ausschließlich die Frage, ob die Ausweisung des Beschwerdeführers gemäß §53 Abs1 FPG "alt" rechtmäßig war.
Der Beschwerdeführer ist daher nicht in Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt.
2.1. Nach der mit VfSlg. 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg. 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg. 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein - auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes - Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit.
gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet ein Bescheid, wenn er auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg. 16.214/2001), wenn die Behörde dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der - hätte ihn das Gesetz - dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg. 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn sie bei Erlassung des Bescheides Willkür geübt hat (zB VfSlg. 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001).
Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
2.2. Ein solches willkürliches, in die Verfassungssphäre reichendes Verhalten ist der belangten
Behörde vorzuwerfen:
Zur Zulässigkeit der Ausweisung im Lichte des §61
Abs1 und 2 FPG führt die belangte Behörde Folgendes aus:
"[...] Auch wenn die erkennende Behörde 1) die Bemühungen des Berufungswerbers anerkennt, die deutsche Sprache zu erlernen, und 2) anerkennt, dass er versucht, sich in die Berufswelt zu integrieren, so wird in ihrer Gesamtheit betrachtet das Ausmaß der Integration des Berufungswerbers nur als äußerst gering erachtet werden.
Es sind während seines nahezu elfjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet keine andere eine Integration im Bundesgebiet indizierende Sachverhalte hervorgekommen. Es kann daher auch von keiner relevanten, eine Ausweisung aufgrund der Vorgaben des Art8 EMRK unzulässig machenden, persönlichen und familiären Integration des Berufungswerbers ausgegangen werden. [...]"
Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg. 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Ausweisung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Auszuweisenden verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. VfSlg. 18.223/2007 und 18.224/2007).
Die belangte Behörde hat zwar
Versicherungsdatenauszüge und Anfragen beim Arbeitsmarktservice, Zentralen Melderegister und bei der BPD Wien eingeholt, aber keine darüber hinausgehende Ermittlungstätigkeit gesetzt - wie zB die zweite Eheschließung des Beschwerdeführers berücksichtigt oder den langjährigen Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich ermittelt, auf den insbesondere auch der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 5. Oktober 2010 Bezug nimmt - und dem Beschwerdeführer auch kein Parteiengehör zu seiner persönlichen Situation in Österreich gewährt, was die Vornahme einer dem Gesetz (§61 FPG) und Art8 EMRK entsprechenden Interessenabwägung ausschließt.
Da die belangte Behörde jegliche Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt unterlassen hat, hat sie den angefochtenen Bescheid mit Willkür belastet.
Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.
III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen
1. Aufgrund dieser Umstände wurde der Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 400,-
sowie eine Eingabengebühr in Höhe von € 220,- enthalten.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.