G55/2024 (G55/2024-11) – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Leitsatz
Verstoß näher bezeichneter Bestimmungen des Tir MindestsicherungsG gegen die grundsatzgesetzlichen Vorgaben des Sozialhilfe-GrundsatzG sowie des KlimabonusG; keine fristgerechte Anpassung des Tir MindestsicherungsG an die bundesgesetzlichen Bestimmungen betreffend die Berechnung der Höhe des Einkommens; keine Anrechnung von – der Deckung eines Sonder- und Mehrbedarfs dienenden – Leistungen nach dem KlimabonusG, dem Wohn- und HeizkostenzuschussG sowie dem Lebenshaltungs- und Wohnkosten-AusgleichsG auf das Einkommen durch das Tir MindestsicherungsG
Aufhebung der Wortfolge "oder nach bundesrechtlichen" in §1 Abs4 zweiter Satz Tir MindestsicherungsG – TMSG, LGBl 99/2010, die Wortfolge "sein gesamtes Einkommen und" in §15 Abs1 TMSG, LGBl 99/2010, §15 Abs2 TMSG idF LGBl 18/2018 sowie §17 TMSG, LGBl 99/2010. Fristsetzung: Inkrafttreten der Aufhebung mit Ablauf des 31.03.2025. Abweisung des zweiten Eventualantrags soweit er sich gegen die übrigen Teile der §1 Abs4 und §15 Abs1, LGBl 99/2010, sowie gegen §2 Abs1 lita TMSG, LGBl 99/2010, §2 Abs13 TMSG idF LGBl 205/2021, §15 Abs3, 5 und 7 TMSG idF LGBl 52/2017, §15 Abs4, 6 und 8 TMSG, LGBl 99/2010, §18 Abs1 und 3 TMSG, LGBl 99/2010, sowie §18 Abs2 und 4 TMSG idF LGBl 52/2017 richtet. Zurückweisung des Hauptantrags und der ersten Eventualantrags wegen zu engen Anfechtungsumfangs.
Verstoß gegen §7 Abs5a SH-GG und §7 KliBG:
Dem System der Sozialhilfe liegt das Subsidiaritätsprinzip zugrunde, welches auch im TMSG umfassend verankert ist. Die Mindestsicherung ist daher grundsätzlich nachrangig gegenüber allen anderen Leistungen aller Art. Hilfesuchende haben vor der Gewährung von Mindestsicherung ihr gesamtes Einkommen einzusetzen. Welche Leistungen – in Abweichung von diesem Grundsatz – bei der Berechnung der Höhe des Einkommens außer Ansatz zu lassen sind, bestimmt der taxative Ausnahmekatalog des §15 Abs2 lita bis g TMSG abschließend.
Von den darin genannten Ausnahmen nicht erfasst sind jedoch insbesondere der Klimabonus iSd §7 KliBG, Leistungen iSd §4 Abs4 Wohn- und Heizkostenzuschussgesetz sowie Zuwendungen iSd §4 Abs1 Lebenshaltungs- und Wohnkosten-AusgleichsG. Es ist daher nicht sichergestellt, dass Leistungen iSd §7 Abs5a SH-GG, die bundesgesetzlich ausdrücklich als nicht anrechenbar bezeichnet werden, bei der Berechnung der Höhe des Einkommens gemäß §15 Abs2 TMSG außer Ansatz zu lassen sind.
Eine grundsatzgesetzkonforme Auslegung des §15 Abs2 TMSG scheitert am insoweit eindeutigen Wortlaut sowie im Hinblick auf das auch in anderen Bestimmungen verankerte Subsidiaritätsprinzip. Die von einer Anrechnung ausgenommenen Leistungen müssen allerdings nicht ausdrücklich im Ausführungsgesetz bezeichnet werden. Weder §7 Abs5a SH‑GG noch §7 KliBG enthalten diesbezüglich eine "Bezeichnungspflicht". Dem Ausführungsgesetzgeber steht es frei, auf welche Weise er diese Grundsatzbestimmungen umsetzt, solange sichergestellt ist, dass die betreffenden Leistungen nicht anzurechnen sind.
Im Sinne eines geringstmöglichen Eingriffes in den Gehalt des TMSG ist es im vorliegenden Fall ausreichend, die Wortfolge "oder nach bundesrechtlichen" in §1 Abs4 zweiter Satz, die Wortfolge "sein gesamtes Einkommen und" in §15 Abs1 sowie §15 Abs2 und §17 TMSG zur Gänze aufzuheben. Nach der hienach bereinigten Rechtslage fallen nämlich Leistungen iSd §7 Abs5a SH‑GG und §7 KliBG – im Lichte einer systematischen Auslegung – weder unter den Begriff der "eigenen Mittel" noch unter jenen der zu berücksichtigenden "Hilfeleistungen" nach §1 Abs4 zweiter Satz TMSG noch unter den Begriff der "bedarfsdeckenden oder bedarfsmindernden Leistungen Dritter" in §18 TMSG, und damit schließlich weder unter die in §1 Abs4 erster Satz TMSG genannten "Leistungen Dritter" noch unter die in §2 Abs1 lita TMSG genannte "Hilfe Dritter".