E1786/2022 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Bei seiner Ableitung, dass der Beschwerdeführer durch seine Ausreise aus dem Bundesgebiet während eines laufenden Verfahrens gezeigt habe, dass er kein Interesse an einer Entscheidung über seine Beschwerde mehr habe, übersieht das BVwG zum einen, dass gegen den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Ausreise eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung (Erkenntnis v 17.11.2020) bestand, die ihm am 19.11.2020 zugestellt wurde. Die Rückkehrentscheidung wurde demnach mit Ablauf der Frist für die freiwillige Ausreise am 04.12.2020 durchsetzbar. Auch der Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach §55 Abs1 AsylG 2005 hat kein Aufenthaltsrecht begründet und stand der Durchführung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nicht entgegen. Der Beschwerdeführer kam daher mit seiner Ausreise zu einem vom BVwG nicht festgestellten, aber jedenfalls nach Oktober 2021 gelegenen Zeitpunkt einer Verpflichtung entsprechend den Anordnungen vom 17.11.2020 nach. Er verliert aber durch diese Ausreise nicht eo ipso sein rechtliches Interesse an der Bekämpfung eines für rechtswidrig erachteten Bescheides vor dem BVwG.
Die gegenteilige Ansicht hätte zur Konsequenz, dass sich der Beschwerdeführer zur Aufrechterhaltung seines rechtlichen Interesses jedenfalls rechtswidrig verhalten und illegal im Bundesgebiet aufhältig hätte bleiben müssen. Angesichts dessen ist durch die Ausreise des Beschwerdeführers zu einem Zeitpunkt, zu dem sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach §55 Abs1 AsylG 2005 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl anhängig, aber noch nicht entschieden war, auch nicht eo ipso ein Wegfall der Beschwer betreffend den über diesen Antrag absprechenden Bescheid eingetreten. Hätte die Beschwerde vor dem BVwG Erfolg, hätte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) inhaltlich über die Erteilung des Aufenthaltstitels zu entscheiden; das Interesse des Beschwerdeführers daran geht nicht allein deshalb verloren, weil er einer rechtlichen Verpflichtung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet nachkommt.
Zum anderen verkennt das BVwG, dass der angefochtene Bescheid nicht einen Antrag auf internationalen Schutz, sondern einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach §55 Abs1 AsylG 2005 betrifft, weshalb die von ihm zitierte Rsp des VwGH hier nicht einschlägig ist. Durch die Abweisung eines Antrages auf internationalen Schutz ist eine Person dann nicht mehr (objektiv) beschwert, wenn sie sich iSd Art1 Abschnitt C Z1 GFK und Art11 Abs1 Richtlinie 2011/95/EU (Status-RL) freiwillig wieder unter den Schutz ihres Herkunftsstaates gestellt hat. Dasselbe gilt aber nicht für einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach §55 Abs1 AsylG 2005, bei dem es auf eine Verfolgung oder sonstige Gefährdung im Herkunftsstaat nicht ankommt.
Das rechtliche Interesse des Beschwerdeführers an einer Entscheidung über den angefochtenen Bescheid geht auch nicht dadurch verloren, dass er den Kontakt zu seiner "primären Bezugsperson" in Österreich abgebrochen hat. Zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der auf §58 Abs10 AsylG 2005 gestützten Antragszurückweisung durch das BFA ist zu prüfen, ob aus dem Antragsvorbringen im Hinblick auf das Privat- und Familienleben ein seit Erlassung der Rückkehrentscheidung geänderter Sachverhalt hervorgeht, der eine ergänzende oder neue Abwägung gemäß Art8 EMRK erforderlich macht. In seinem Antrag berief sich der Beschwerdeführer nicht allein auf die Beziehung zu seiner damaligen Unterkunftgeberin und Lebensgefährtin, sondern - durch Vorlage entsprechender Unterstützungserklärungen - unter anderem auch auf jene zu seinem Bruder und seiner Schwägerin, mit denen er im gemeinsamen Haushalt lebe, sowie zu weiteren Freunden und Bekannten. Das für die Abwägung gemäß Art8 EMRK relevante Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers lässt sich daher nicht bloß auf die Beziehung zu seiner ehemaligen Unterkunftgeberin und Lebensgefährtin reduzieren.