E291/2022 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Gemäß der Rsp des EuGH zu Art10 Abs1 litd Status-RL, auf die sich auch der VwGH bei der Auslegung des Asylgrundes der "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK bezieht, müssen für das Vorliegen einer "sozialen Gruppe" kumulativ zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Zum anderen muss diese Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Bei der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe müssen geschlechtsbezogene Aspekte angemessen berücksichtigt werden (Erwägungsgrund 30 der Status-RL sowie UNHCR-Richtlinie Nr 1: Geschlechtsspezifische Verfolgung).
Ausgehend davon, dass die Beschwerdeführerin in Nigeria Opfer von Menschenhandel geworden ist und ihr bei einer Rückkehr nach Nigeria die reale Gefahr droht, wieder Opfer von Menschenhandel zu werden, prüft das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), ob die Beschwerdeführerin einer "bestimmten sozialen Gruppe" iSd Art1 Abschnitt A Z2 GFK und Art10 Abs1 litd Status-RL angehört, nämlich der Gruppe "nach Nigeria zurückkehrende[r] Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und die sich hiervon befreit haben". Unter Hinweis auf die Rsp stellt das BVwG nicht in Frage, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind, durch ihre sexuelle Ausbeutung einen gemeinsamen Hintergrund teilen, der nicht verändert werden kann, und dass damit das erste Kriterium für das Vorliegen einer "sozialen Gruppe" erfüllt ist.
Zum zweiten Kriterium, der "deutlich abgegrenzten Identität", führt das BVwG mit Verweis auf aktuelle Länderberichte aus, dass nigerianische Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden seien und ohne Vermögen aus Europa zurückkehren würden, einer sozialen Stigmatisierung unterlägen, weil angenommen werde, dass sie der Prostitution nachgegangen seien.
Das BVwG nimmt auch an, dass die Beschwerdeführerin - eine alleinstehende, mittellose Frau, ohne formale Bildung und ohne familiäre Unterstützung im Herkunftsland - eben jener Gruppe der Opfer von Menschenhandel angehört, die bei einer Rückkehr mit Stigmatisierung zu rechnen hat. Das BVwG verneint die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gleichwohl mit dem Hinweis, dass nicht jede nach Nigeria zurückkehrende Frau, die Opfer von Menschenhandel wurde, identisch behandelt werde, sondern es auf die konkreten Umstände ankomme, weshalb eine "deutlich abgegrenzte Identität" fehle. Diese Begründung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht tragfähig: Denn das BVwG nimmt selbst an, dass die Beschwerdeführerin jener (Teil-)Gruppe angehört, der eine Stigmatisierung droht. Gerade hierin manifestiert sich aber die "deutlich abgegrenzte Identität" dieser Gruppe, weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft offensichtlich als andersartig betrachtet wird.
Soweit sich das BVwG auf VwGH 14.08.2020, Ro 2020/14/0002, bezieht, ist dem entgegenzuhalten, dass der VwGH darin nicht in Zweifel gezogen hat, dass eine "abgegrenzte Identität" bei gesellschaftlicher Stigmatisierung von Opfern des Menschenhandels vorliegen kann. Auch der VfGH hat in vergleichbaren Fällen, in denen das BVwG jeweils von der Asylrelevanz der Eigenschaft als Opfer von Menschenhandel ausgegangen ist, das Vorliegen einer sozialen Gruppe nicht in Frage gestellt.
Es fehlt somit eine nachvollziehbare Begründung, warum die Beschwerdeführerin - eine nigerianische Frau, die als Opfer von Menschenhandel sexuell ausgebeutet wurde und bei ihrer Rückkehr nach Nigeria stigmatisiert, ausgegrenzt oder diskriminiert würde - nicht Mitglied einer "bestimmten soziale Gruppe" iSd Art10 Abs1 litd Status-RL und Art1 Abschnitt A Z2 GFK sei.
(Siehe auch E v 01.07.2022, E309/2022).