V3/2022 (V3/2022-19) – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Gesetzwidrigkeit der Abs1, 2 und 3 des §6 der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), mit der besondere Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung von COVID-19 getroffen werden (6. COVID-19-SchutzmaßnahmenV - 6. COVID-19-SchuMaV) idF BGBl II 601/2021. Im Übrigen: Abweisung des Individualantrags.
Der Antragsteller begehrt mit seinem am 04.01.2022 eingebrachten Antrag die Aufhebung näher bezeichneter Bestimmungen der 6. COVID-19-SchuMaV "in der Fassung vom 30.12.2021 (BGBl II 537/2021, 556/2021, 568/2021, 588/2021, 601/2021, 602/2021)". Am 30.12.2021 wurden die Novellen BGBl II 601/2021 und BGBl II 602/2021 ausgegeben, die (im Wesentlichen) am 03.01.2022 bzw am 02.01.2022 in Kraft traten und sohin am Tag der Antragstellung in Geltung standen; die nächste, 6. Novelle zur 6. COVID-19-SchuMaV, BGBl II 6/2022, wurde erst am 10.01.2022 ausgegeben. Damit hat der Antragsteller mit Blick auf den Antragszeitpunkt und die im Antrag dargelegten Bedenken die angefochtene Fassung hinreichend genau bezeichnet, wobei es nicht schadet, dass der Antragsteller die angefochtene Fassung nicht präzise für jeden Absatz bezeichnet. Die 6. COVID-19-SchuMaV ist mit Ablauf des 30.01.2022 außer Kraft getreten. Dies schadet mit Blick auf die Rsp des VfGH nicht. Der Antragsteller war auch nicht gehalten, §14 (Abs1) der 6. COVID-19-SchuMaV mitanzufechten: Die spezielle Ausgangsregelung des §14 Abs1 leg cit bezieht sich nämlich nur auf den "Zweck der Teilnahme an Zusammenkünften" und es bleibt dem Antragsteller unbenommen, nur gegen einen Teil der zahlreichen, ihm auferlegten Beschränkungen vorzugehen. Dass sich indessen die Rechtslage für den Antragsteller im Falle einer Aufhebung von §3 der 6. COVID-19-SchuMaV infolge ihres §14 überhaupt nicht ändern würde, behauptet auch der BMSGPK nicht.
Bestehen einer gesetzlichen Grundlage für die Differenzierung nach dem Impf- und Genesenenstatus bei Ausgangsregelungen:
Gemäß §1 Abs5b COVID-19-MG könne für die in Abs5a Z1 bis 4 genannten Personengruppen (das sind insbesondere geimpfte oder genesene Personen) "weitergehende Ausnahmen von den auf Grundlage dieses Bundesgesetzes festgelegten Beschränkungen angeordnet werden". Nach den Gesetzesmaterialien soll der Begriff der "Beschränkungen" weit zu verstehen sein und "alle aufgrund des COVID-19-MG möglichen Maßnahmen" umfassen. Damit hat die differenzierende Ausnahme des §3 Abs4 der 6. COVID-19-SchuMaV eine hinreichende gesetzliche Grundlage.
Gefahr eines Zusammenbruches der medizinischen Versorgung:
Die angefochtene Ausgangsregelung des §3 der 6. COVID-19-SchuMaV hat sich auf die Verordnungsermächtigung des §6 COVID-19-MG gestützt. Gemäß §6 COVID-19-MG kann das Verlassen des eigenen privaten Wohnbereiches beschränkt werden, sofern es zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 "unerlässlich ist, um einen drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung oder ähnlich gelagerte Notsituationen zu verhindern".
Der am 04.01.2022 eingebrachte Antrag fällt in die zweite Verlängerungsperiode (01.01. bis 10.01.2022) des Geltungszeitraumes der 6. COVID-19-SchuMaV, die durch die 4. Novelle zur 6. COVID-19-SchuMaV, BGBl II 601/2021, angeordnet worden war. Mit Blick auf §12 Abs3 zweiter Satz COVID-19-MG ist daher für die Beurteilung der Rechtskonformität des §3 der 6. COVID-19-SchuMaV während der zweiten Verlängerungsperiode die epidemiologische Lage maßgeblich, die zur Zeit der Erlassung der 4. Novelle zur 6. COVID-19-SchuMaV geherrscht hat.
Der VfGH vermag dem Verordnungsgeber nicht entgegenzutreten, wenn er im Zeitpunkt der Erlassung der 4. Novelle zur 6. COVID-19-SchuMaV angesichts der damals festzustellenden Hospitalisierungszahlen die Gefahr einer Notsituation prognostiziert hat, die einem drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung zumindest ähnlich gelagert ist. Zwar hatte sich die Lage der Intensiv- und Normalbettenstationen der Krankenanstalten in den vorangegangenen Wochen sukzessive entspannt. Die COVID-19-Hospitalisierungszahlen befanden sich im Zeitpunkt der Erlassung der 4. Novelle zur 6. COVID-19-SchuMaV aber noch immer auf hohem Niveau. Gleichzeitig verbreitete sich die Omikron-Variante von SARS-CoV-2 schnell, ohne dass der verordnungserlassenden Behörde bis dahin ein hinreichender Beobachtungszeitraum zur abschließenden Einschätzung der Folgen der Verbreitung dieser Variante zur Verfügung gestanden wäre. Der VfGH vermag daher der verordnungserlassenden Behörde nicht entgegenzutreten, wenn sie bei Erlassung der 4. Novelle zur 6. COVID-19-SchuMaV einen drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung oder zumindest eine ähnlich gelagerte Notsituation prognostiziert hat, weshalb die Voraussetzungen für eine Ausgangsregelung nach §6 COVID-19-MG zum Zeitpunkt der Erlassung der 4. Novelle zur 6. COVID-19-SchuMaV gegeben waren.
Der VfGH hegt keine Zweifel, dass jede Maßnahme, die eine Kontaktreduktion zur Folge hat, wie hier eine Ausgangsregelung für bestimmte Bevölkerungsgruppen ("Lockdown für Ungeimpfte"), anteilig eine das epidemiologische Geschehen dämpfende Wirkung hat und damit anteilig dazu beiträgt, die Verbreitung von COVID-19 einzudämmen.
Keine Rechtswidrigkeit der Unterscheidung zwischen geimpften und ungeimpften Personen:
Die in der Fachlichen Begründung zur 4. Novelle der 6. COVID-19-SchuMaV enthaltenen Auswertungen der AGES zur 7-Tage-Inzidenz verweisen auf einen deutlichen Unterschied der Inzidenzen nach Immunitätsstatus. Demnach würden Personen, die keinen impfinduzierten oder natürlich erworbenen Immunschutz haben, eine (insbesondere auch im Vergleich zu Geimpften bzw Genesenen) deutlich höhere 7-Tage-Inzidenz in allen Altersgruppen aufweisen. Eine stichtagsbezogene Erhebung des Impfstatus der hospitalisierten Personen zeigt, dass lediglich 22,3 % der Patienten auf Intensivstationen bzw 35,3 % der Patienten auf Normalstationen über einen ausreichenden Immunschutz verfügten. Dem BMSGPK ist vor diesem Hintergrund nicht entgegenzutreten, wenn er davon ausging, dass nicht immunisierte Personen deutlich stärker zum Infektionsgeschehen und zur Belastung auf den Krankenpflegestationen beitragen als immunisierte Personen, die über einen 2G-Nachweis verfügen.
Zugleich räumt die verordnungserlassende Behörde selbst ein, dass der Unterschied zwischen diesen Personengruppen - insbesondere in Bezug auf jene Personen, die zwar geimpft sind, aber (noch) keine sog "Booster-Impfung" erhalten haben - nicht mehr so ausgeprägt war wie zuvor. So zeichne sich die Omikron-Variante den fachlichen Ausführungen der verordnungserlassenden Behörde zufolge zum einen durch eine erhöhte Infektiösität aus; zum anderen zeige sich aber auch eine insgesamt reduzierte Impfwirksamkeit im Vergleich zur Delta-Variante, wodurch auch vermehrt immunisierte Personen infiziert werden und erkranken könnten. Bei der im Zeitpunkt der Verordnungserlassung noch dominanten Delta-Variante und trotz Unsicherheiten hinsichtlich der Omikron-Variante gehe von Personengruppen, die unter die 2G-Regel fielen ein geringe epidemiologische Gefahr aus, die deutlich geringer sei als bei anderen, insbesondere lediglich getesteten Personen.
Insgesamt ist die Studienlage zur Omikron-Variante, die erst Ende November 2021 entdeckt wurde und sich innerhalb kürzester Zeit in Österreich zur dominanten Variante entwickelt hat, im Zeitpunkt der Verordnungserlassung noch nicht sehr breit und auf Grund des kurzen Beobachtungszeitraumes von Unsicherheiten geprägt gewesen. Die im Verordnungsakt dokumentierten fachlichen Grundlagen zeigen jedoch, dass sich die verordnungserlassende Behörde mit dem internationalen Stand der wissenschaftlichen Diskussion laufend befasst und diesen in ihre Überlegungen einbezogen hat. Der BMSGPK konnte zum Entscheidungszeitpunkt davon ausgehen, dass Personen mit einem 2G-Nachweis - sei es auf Grund einer Schutzimpfung oder einer Genesung - eine deutlich geringere epidemiologische Gefahr darstellen als nicht immunisierte Personen.
Soweit der Antragsteller vorbringt, PCR-Tests hätten für ungeimpfte Personen zu einer Gleichstellung mit geimpften oder genesenen Personen führen müssen, ist festzuhalten, dass das Vorhandensein eines negativen PCR-Testergebnisses auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 zwar - jedenfalls für einen kurzen Zeitraum - die Wahrscheinlichkeit einer bestehenden Infektion reduziert und damit ein geeignetes Mittel zur Verhinderung der Weiterverbreitung des Virus darstellen kann. Die Fachliche Begründung zur 4. Novelle zur 6. COVID-19-SchuMaV weist in Bezug auf Testungen auf eine Infektion mit SARS-CoV-2 aber insbesondere auch darauf hin, dass sich die - zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung noch dominante - Delta-Variante ua durch eine kürzere Inkubations- und Latenzperiode als der "Wildtyp" auszeichne; vorläufige Untersuchungen zur Omikron-Variante würden Hinweise auf eine verkürzte Inkubationszeit von drei Tagen geben. Da sich eine Person zum Testzeitpunkt noch in der Latenzperiode befinden oder in der Zeit zwischen dem Test und dem Zutritt infizieren könne, gehe insbesondere angesichts der veränderten Eigenschaften der Delta- bzw Omikron-Variante eine möglichst kurze Gültigkeitsdauer mit höherer Sicherheit einher. Zur Wahrscheinlichkeit einer Transmission und eines schweren Verlaufes wird in der Fachlichen Begründung darauf hingewiesen, dass getestete Personen, die weder genesen noch geimpft seien, über keine Immunität gegen SARS-CoV-2 verfügten, was sich auf die Transmissionswahrscheinlichkeit trotz negativen Testergebnisses auswirken könne. Je nach Risikofaktoren sei bei lediglich getesteten Personen ein entsprechendes Risiko für einen schweren Verlauf und in weiterer Folge eine Belastung des Gesundheitssystems gegeben. Vor diesem Hintergrund ist dem Verordnungsgeber nicht entgegenzutreten, wenn er die (bloße) Vorlage eines negativen PCR-Testergebnisses nicht für geeignet hielt, um die prognostizierte systemkritische Belastung des Gesundheitssystems abzuwenden bzw die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern (vgl bereits E v 17.03.2022, V294/2021).
In einer Gesamtbetrachtung gründet die mit den angefochtenen Maßnahmen vorgenommene Differenzierung zwischen nicht bzw unzureichend immunisierten Personen und Personen mit gültigem 2G-Nachweis im Hinblick auf die von diesen Personengruppen ausgehende epidemiologische Gefahr nachvollziehbar auf relevanten Unterschieden im Tatsächlichen.
Verstoß gegen §6 Abs3 Z3 COVID-19-MG:
§6 Abs3 COVID-19-MG umschreibt Tatbestände, die das Verlassen des eigenen privaten Wohnbereichs trotz Ausgangsregelung "jedenfalls" erlauben, darunter insbesondere zur "Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens". Diese - im Kern verfassungsrechtlich gebotene - Ausnahme kann nicht auf geimpfte, getestete oder genesene Personen eingeschränkt werden (auch §1 Abs5b COVID-19-MG gestattet bloß personenbezogene Ausnahmen von Beschränkungen, jedoch keine Durchbrechungen der in §6 Abs3 leg cit garantierten Zwecke). Daraus folgt, dass auch Betriebsstätten zur Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens ohne Einschränkung auf geimpfte, getestete oder genesene Personen betreten werden können müssen; andernfalls könnte der Verordnungsgeber den Regelungszweck des §6 Abs3 Z3 COVID-19-MG durch Betretungsbeschränkungen nach §3 leg cit unterlaufen. Regelungen über das Betreten der Kundenbereiche von Betriebsstätten (wie §6 der 6. COVID-19-SchuMaV) müssen daher insbesondere Kundenbereiche von Betriebsstätten, soweit sie zur Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens dienen, allgemein zugänglich lassen.
Dem Antragsteller ist zuzustimmen, dass der Tatbestand der notwendigen Grundbedürfnisse des "täglichen" Lebens (§6 Abs3 Z3 COVID-19-MG) nicht ohne Rücksicht auf die Dauer einer Ausgangsbeschränkung verstanden werden kann, die nach dem Konzept des Gesetzgebers grundsätzlich auf zehn Tage angelegt ist. Wenn der Verordnungsgeber durch die Aneinanderreihung solcher Verordnungen im Ergebnis eine wochen- oder gar monatelange Ausgangsbeschränkung anordnet - wogegen der Antragsteller keine Bedenken geltend gemacht hat -, kommt der gesetzlich vorgesehenen Ausnahme der Grundbedürfnisse des "täglichen" Lebens jedoch eine andere Bedeutung zu als bei einer bloß auf wenige, höchstens zehn Tage angelegten Ausgangsregelung.
Der VfGH vermag dem Antragsteller nicht entgegenzutreten, wenn er im Lichte der (kumulierten) Dauer der angefochtenen Ausgangsregelung insbesondere die Dienstleistungen der Friseure zu den (verfassungskonform verstandenen) Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zählt. Der VfGH ist nicht gehalten zu beurteilen, ob alle der vom Antragsteller ins Treffen geführten Güter und Dienstleistungen in diesem Sinn Grundbedürfnissen des täglichen Lebens dienen. Vielmehr reicht die Feststellung, dass §6 Abs1, 2 und 3 der 6. COVID-19-SchuMaV, wie exemplarisch am Beispiel der Friseure dargetan, der im Lichte des Zweckes der Regelung gebotenen Freistellung für Grundbedürfnisse des täglichen Lebens nicht (mehr) hinreichend Rechnung trägt. §6 Abs1, 2 und 3 der 6. COVID-19-SchuMaV widersprach daher §3 iVm §6 (Abs3 Z3) COVID-19-MG.