E189/2022 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Nach Auffassung des VfGH war insbesondere auf Grund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom 19.07.2021 von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen, sodass jedenfalls eine Situation vorlag, in der Rückkehrer nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art2 und 3 EMRK ausgesetzt wären. Angesichts der aktuellen Berichtslage, wonach die Lage in Afghanistan (nach wie vor) volatil bleibe (vgl zB das Update der EASO Country Guidance Afghanistan aus November 2021), sah sich der VfGH zuletzt nicht veranlasst, von dieser Auffassung abzugehen (E v 16.12.2021, E4227/2021).
Auch die dem angefochtenen Erkenntnis des BVwG zugrunde gelegte Berichtslage zeigt nicht auf, dass nunmehr eine anderslautende Einschätzung zu treffen wäre: Das BVwG geht von einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz Nangarhar aus. Trotz der weiterhin gegebenen Volatilität der Lage im gesamten Staatsgebiet hat es das BVwG aber unterlassen, nachvollziehbare Feststellungen zur sicheren Erreichbarkeit dieser Region für den Beschwerdeführer zu treffen. Die Aussage im angefochtenen Erkenntnis, dass "die Unsicherheit auf Reisen in Afghanistan im Wesentlichen auf den Angriffen und den Kontrollen der Taliban [beruhte]", auf Grund der "Machtübernahme der Taliban [...] aber nicht mehr davon auszugehen [ist], dass diese Angriffe und Kontrollen nach wie vor in dieser Art und Weise sowie Intensität durchgeführt werden", greift jedenfalls zu kurz, zumal sie keine Deckung in den im angefochtenen Erkenntnis zitierten Länderberichten findet. Zur aktuellen Sicherheits- wie auch zur Versorgungslage in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers finden sich im angefochtenen Erkenntnis keinerlei Feststellungen.
Soweit das BVwG den Beschwerdeführer in einer Alternativbegründung - für den Fall, dass sein Heimatort "aufgrund derzeit nicht intakter Verbindungen nicht zu erreichen ist" - auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Kabul oder Mazar-e Sharif verweist, ist ihm entgegenzuhalten, dass eine solche laut der - auch im angefochtenen Erkenntnis zitierten - Einschätzung von EASO (November 2021) grundsätzlich in keinem Teil Afghanistans angenommen werden könne. Ebenso erachtete der UNHCR es zuletzt als nicht angemessen, internationalen Schutz auf Grundlage einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verweigern (vgl UNHCR, Position on Returns to Afghanistan, August 2021). Der angefochtenen Entscheidung lässt sich jedoch in keiner Weise entnehmen, auf Grund welcher Berichtslage das BVwG - entgegen der auch im angefochtenen Erkenntnis zitierten Einschätzungen von UNHCR und EASO - von der Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den genannten Städten ausgeht.
Das BVwG setzt sich insbesondere nicht mit der Frage auseinander, inwiefern der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Nangarhar respektive nach Kabul oder Mazar-e Sharif Gefahr laufen würde, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. In diesem Zusammenhang werden vom BVwG beispielsweise auch Hinweise auf willkürliche Kontrollen und Bestrafungen bis hin zu gezielten Hinrichtungen nicht thematisiert, obwohl sie sich in den im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichten finden.
Auch die - ebenfalls nur pauschal auf das gesamte Staatsgebiet bezogene - Einschätzung des BVwG hinsichtlich der Versorgungslage in Afghanistan ist für den VfGH mit Blick auf die aktuelle Berichtslage nicht nachvollziehbar (vgl zB das Situation Update von UNHCR "Afghanistan situation: Emergency preparedness and response in Iran" vom 08.12.2021).