JudikaturVfGH

G216/2021 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
28. Februar 2022

Aus Art90 Abs1 B-VG und Art6 Abs1 EMRK folgt keineswegs, dass es generell unzulässig wäre, in einer öffentlichen Hauptverhandlung Protokolle von Aussagen zu verwerten, etwa durch Verlesung, die im vorangegangenen, nichtöffentlichen Ermittlungsverfahren abgegeben wurden, und Aktenstücke nur insoweit als Beweismittel dienen können, als sie bei der Hauptverhandlung vorgelesen oder vom Vorsitzenden vorgetragen worden sind. Allgemein gilt nach der Rsp des EGMR, dass die Verwendung von im Vorverfahren erlangten Aussagen als Beweise mit Art6 Abs1 und Abs3 litd EMRK vereinbar ist, sofern die Verteidigungsrechte gewährleistet sind, insbesondere das Recht, den Zeugen angemessen und geeignet zu befragen.

Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Anordnung der kontradiktorischen Vernehmung als prozessleitende Verfügung nicht selbstständig anfechtbar ist, denn weder aus Art6 EMRK noch aus einer anderen Bestimmung der EMRK - mit Ausnahme des Art2 7. ZPEMRK im Falle strafgerichtlicher Verurteilungen - lässt sich die Notwendigkeit der Einrichtung eines Instanzenzuges gegen gerichtliche Entscheidungen ableiten.

Dazu kommt, dass der Beschuldigte nach §49 Abs1 Z6 StPO im Ermittlungsverfahren das Recht hat, bei der Staatsanwaltschaft die Aufnahme von Beweisen gemäß §55 StPO zu beantragen. Es steht ihm daher auch frei, bei dieser die kontradiktorische Vernehmung von Zeugen nach §165 StPO zu beantragen. Es begegnet aber keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass nur die Staatsanwaltschaft berechtigt ist, bei Gericht die kontradiktorische Vernehmung von Beschuldigten und Zeugen zu beantragen, zumal sie zwar grundsätzlich das Ermittlungsverfahren leitet, in bestimmten Fällen aber das Gericht die Beweisaufnahme durchzuführen hat.

Das Rechtsinstitut der kontradiktorischen Vernehmung gemäß §165 StPO gewährleistet, insbesondere mit Blick auf Art6 Abs1 und 3 litd EMRK, die Verteidigungs- und Fragerechte des Beschuldigten im Strafverfahren. Gemäß §156 Abs1 Z2 StPO sind besonders schutzbedürftige Opfer von der Pflicht zur Aussage befreit, wenn die Parteien Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen kontradiktorischen Vernehmung zu beteiligen. Für den Fall aber, dass nach einer solchen kontradiktorischen Vernehmung Umstände hervortreten, die den - im Schutz des Zeugen gelegenen - Entfall der Zeugnispflicht gegen das Verteidigungsinteresse an ergänzender Befragung zurücktreten lassen, ist die ausnahmsweise ergänzende Vernehmung eines - an sich gemäß §156 Abs1 Z2 StPO von der Aussage befreiten - Zeugen zulässig.

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