E1688/2015 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Das Bundesverwaltungsgericht geht im angefochtenen Erkenntnis davon aus, dass allein die mit Erfolg bestandene Rechtsanwaltsprüfung nach dem RechtsanwaltsprüfungsG (RAPG) eine wechselseitig anrechenbare Berufsprüfung iSd §9 Ausbildungs- und Berufsprüfungs-Anrechnungsgesetz (ABAG) darstelle, die zur Zulassung zur mündlichen Ergänzungsprüfung für die Notariats- bzw Richteramtsprüfung berechtige, nicht hingegen die vom Beschwerdeführer absolvierte Eignungsprüfung nach §24 ff EIRAG (BG über den freien Dienstleistungsverkehr und die Niederlassung von europäischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sowie die Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch international tätige Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Österreich; vormals EuRAG).
Damit unterstellt das Bundesverwaltungsgericht §9 und §10 Abs1 ABAG einen verfassungswidrigen Inhalt.
Die Vorschriften der RAO, des ABAG und des EIRAG sind nämlich - verfassungskonform verstanden - nicht isoliert, sondern in einer Gesamtbetrachtung auszulegen.
Für die unterschiedliche Behandlung von Personen, die ihre Berufsqualifikation als Rechtsanwalt jeweils - wenn auch in verschiedener Art und Weise (Rechtsanwaltsprüfung nach der RAO bzw dem RAPG einerseits, Eignungsprüfung nach dem EIRAG andererseits) - nachgewiesen haben, findet sich in Bezug auf die Zulassung zur Notariatsergänzungsprüfung nach dem ABAG keine sachliche Rechtfertigung: Die erfolgreiche Ablegung der Eignungsprüfung nach §27 EIRAG substituiert die erfolgreiche Absolvierung der Rechtsanwaltsprüfung nach dem RAPG, berechtigt wie diese bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen zur Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte und damit zur (uneingeschränkten) Ausübung der Rechtsanwaltschaft in Österreich. Bei Auslegung des §9 ABAG iVm §10 ABAG spielt die Gleichwertigkeit der konkreten Inhalte der Berufsberechtigungsprüfungen keine entscheidende Rolle, ausschlaggebend ist vielmehr allein die Gleichwertigkeit der mit der erfolgreichen Ablegung der in Rede stehenden Prüfungen verbundenen Berechtigung zur Berufsausübung.
Der Gesetzgeber normiert in §9 ABAG den Grundsatz der wechselseitigen Anrechenbarkeit der Berufsprüfungen der Rechtsberufe und sieht vor, dass die Notariats-, die Rechtsanwalts- und die Richteramtsprüfung wechselseitig anrechenbar sind. §10 Abs1 ABAG regelt, dass derjenige, der eine der in §9 ABAG genannten Berufsprüfungen (nach den im Zeitpunkt der Ablegung geltenden Bestimmungen) bestanden hat und eine andere dieser Prüfungen ablegen will, im Antrag auf Zulassung zu dieser Prüfung verlangen kann, dass die bereits bestandene Prüfung angerechnet werde. §10 Abs1 ABAG ist - gleichheitskonform - so zu verstehen, dass nicht nur die Ablegung der Rechtsanwaltsprüfung nach dem RAPG, sondern auch die bestandene staatliche Eignungsprüfung nach dem EIRAG erfasst wird, die gemäß §25 EIRAG der beruflichen Qualifikation des Bewerbers zur Ausübung des Anwaltsberufes Rechnung trägt. Eine andere Auslegung hätte einen dem Gesetz nicht zusinnbaren Wertungswiderspruch innerhalb der Gruppe der zur (uneingeschränkten) Ausübung des Rechtsanwaltsberufes Berechtigten zur Folge, womit eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung gleichartiger Sachverhalte gegeben wäre.
Die gebotene verfassungskonforme Interpretation ergibt daher, dass auch die erfolgreich abgelegte Eignungsprüfung nach §27 EIRAG eine wechselseitig anrechenbare Berufsprüfung iSd §9 ABAG darstellt, die zur Zulassung zur Ergänzungsprüfung nach §10 Abs1 ABAG berechtigt.