G325/2015 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Abweisung eines Antrags des OGH auf Aufhebung des §89d Abs2 GOG idF BGBl I 26/2012 sowie des §125 Abs1 und §126 Abs1 ZPO.
Zulässigkeit des Antrags: Der OGH geht denkmöglich davon aus, dass er bei der Entscheidung im bei ihm anhängigen Anlassverfahren die - kumulativ - angefochtenen Bestimmungen, nämlich §89d Abs2 GOG sowie den jeweiligen Abs1 der §§125 und 126 ZPO, anzuwenden hat bzw dass diese in ihrem Zusammenspiel das nach Auffassung des OGH verfassungswidrige Ergebnis bewirken (vgl VfGH 10.03.2015, G201/2014).
Seit dem 01.05.2012, dem Tag des Inkrafttretens des §89d Abs2 GOG idF BGBl I 26/2012, ist für den Zustellungszeitpunkt gerichtlicher Erledigungen und damit den Beginn des Fristenlaufes hinsichtlich physischer Zustellung einerseits und elektronischer Zustellung im Elektronischen Rechtsverkehr (ERV) andererseits zu unterscheiden. Während die Sendung bei physischer Zustellung idR an jenem Tag als zugestellt gilt, an dem der Empfänger diese tatsächlich übernommen hat bzw (bei Hinterlegung) die (erstmalige) Möglichkeit zur Abholung hatte, sieht die hier Bedenken auslösende Norm des §89d Abs2 GOG für Teilnehmer am ERV eine "Zustellfiktion" (am dem Einlangen in den elektronischen Verfügungsbereich folgenden - Samstage ausnehmenden - Werktag) vor.
Zwischen der Zustellung gerichtlicher Erledigungen in Form physischer Übermittlung einerseits und im Wege des ERV andererseits bestehen von vornherein Unterschiede im Tatsächlichen, insbesondere, was den Zeitpunkt der (Möglichkeit der) Kenntnisnahme vom Inhalt der Sendung und dessen Feststellbarkeit anlangt.
Der VfGH vermag dem Gesetzgeber nicht entgegenzutreten, wenn er - offenbar getragen von dem Bestreben, grundsätzlich jenen Tag als Zustellungszeitpunkt festzulegen, an dem regelmäßig davon ausgegangen werden kann, dass der Empfänger von dem (den) zuzustellenden Schriftstück(en) tatsächlich Kenntnis erlangt hat oder zumindest erlangen konnte (vgl für physische Zustellungen etwa §17 Abs3, §26 Abs2 ZustellG), - bei Zustellungen im ERV nicht schon das bloße Einlangen im elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers genügen lässt, sondern erst den folgenden Werktag als Zustellungszeitpunkt bestimmt.
Es ist dem Gesetzgeber nicht entgegenzutreten, wenn er auf einen planbaren, geordneten Kanzlei-, Büro- oder Geschäftsbetrieb bei Rechtsanwälten oder Notaren (der Samstage, Sonn- und Feiertage nicht notwendigerweise inkludiert) bzw bei anderen (gemäß §89c Abs5 GOG) zur Teilnahme am ERV verpflichteten Institutionen oder auch bei freiwillig am ERV teilnehmenden Personen Rücksicht nimmt; da es für die tatsächliche Kenntnisnahme von in den elektronischen Verfügungsbereich gelangter Dokumente nicht nur entsprechender technischer Vorkehrungen, sondern für deren Abrufung regelmäßig auch des Einsatzes von entsprechend geschultem Personal bedarf, ist es - ausgehend von einer Durchschnittsbetrachtung - nicht unsachlich, den Zustellungszeitpunkt in §89d Abs2 GOG mit dem auf das Einlangen im elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers folgenden Werktag zu bestimmen und Samstage nicht als Werktage gelten zu lassen. Der dem Gesetzgeber zustehende rechtspolitische Gestaltungsspielraum wurde damit nicht überschritten.
Auch die vom OGH lediglich kursorisch erfolgte Berufung auf den durch Art6 EMRK verbürgten Grundsatz der Waffengleichheit vermag dem Antrag nicht zum Erfolg zu verhelfen, zumal dieses Prinzip erfordert, dass jede Partei ihre Sache dem Gericht darlegen kann, ohne gegenüber einer anderen Partei substantiell benachteiligt zu sein. Von einer derartigen substantiellen Benachteiligung kann aber nicht die Rede sein, wenn sich die den Parteien eines gerichtlichen Verfahrens zur Verfügung stehende Frist auf Grund technischer Gegebenheiten faktisch um einen Tag (in Sonderkonstellationen allenfalls um einige wenige Tage) für diejenigen Parteien, die am ERV teilnehmen, gegenüber Parteien, denen nicht elektronisch zugestellt werden kann, verlängert.