G20/2015 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Aufhebung der Wortfolgen "und Versicherern" und "oder Versicherungsnehmern oder Versicherungswerbern" in §67 GentechnikG - GTG idF BGBl I 127/2005, sowie des letzten Satzes des §11a Abs1 VersicherungsvertragsG - VersVG idF BGBl I 34/2012.
Zulässigkeit des Individualantrags von Versicherungsunternehmen.
Den Versicherungsunternehmen ist es auf Grund des §67 iVm §11a Abs1 letzter Satz VersVG verwehrt, Ergebnisse von genetischen Analysen von Versicherungsnehmern oder Versicherungswerbern zu erheben, zu verlangen, anzunehmen oder sonst zu verwerten. Kein anderer zumutbarer Umweg; Provozierung eines verwaltungsstrafbehördlichen Verfahrens nicht zumutbar.
Zwar keine Bezeichnung der jeweiligen Fassung der bekämpften Bestimmungen; jedoch wörtliche Wiedergabe im Antrag und auch sonst deutliches Vorbringen; Voraussetzungen des §62 Abs1 VfGG daher erfüllt.
Untrennbarer Zusammenhang der in §67 GTG enthaltenen Wortfolge "und Versicherern" und "oder Versicherungsnehmern oder Versicherungswerbern" sowie §11a Abs1 letzter Satz VersVG ("Das Verbot der Ermittlung genanalytischer Daten gemäß §67 Gentechnikgesetz bleibt unberührt."); geringstmöglicher Aufhebungsumfang gewählt; zweiter Regelungsbereich des §67 GTG betr Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer und Arbeitssuchende bleibt damit unberührt.
Zurückweisung des Individualantrags des (erstantragstellenden) Verbands der Versicherungsunternehmen Österreichs mangels Legitimation.
Bei dem Verband selbst handelt es sich (schon auf Grund seiner Rechtsform, vgl §3 VersicherungsaufsichtsG) nicht um ein zum Betrieb der Vertragsversicherung befugtes Versicherungsunternehmen. Ein unmittelbarer Eingriff in die Rechtssphäre des erstantragstellenden Verbands scheidet daher aus.
Damit eine "genetische Analyse" vorliegt, müssen sämtliche Tatbestandsmerkmale des §4 Z23 GTG idF BGBl I 127/2005 kumulativ erfüllt werden.
Das Verbot des §67 GTG umfasst nicht nur die Forderung oder die "Erzwingung" der Durchführung eines Gentests von Seiten eines Versicherers, sondern auch die sonstige Erhebung und Verwertung anderweitig erlangter genanalytischer Daten (zB auf Wunsch des Versicherungsnehmers/Versicherungswerbers vorgelegte Analyseergebnisse). §67 GTG stellt auch nicht darauf ab, ob die Ergebnisse einer genetischen Analyse dem Betroffenen schon bekannt sind oder ob es sich um erst (auf Initiative des Versicherers) durchzuführende Analysen handelt. Das Verbot des §67 GTG gilt unterschiedslos für alle in §65 Abs1 GTG genannten Typen genetischer Analysen.
Soweit es um Informationen aus genetischen Analysen geht, wird der Anzeigepflicht gemäß §16 VersVG (betr Gefahrenumstände; Rücktrittsrecht bei Unterbleiben der Anzeige) durch §67 GTG (teilweise) materiell derogiert. Soweit die bestehende Krankheit, Krankheitsdisposition oder ein sonstiger gefahrenerhöhender Umstand ausschließlich durch eine genetische Analyse iSd §4 Z23 GTG festgestellt worden ist, entfällt die Anzeigepflicht.
(Partielle) Derogation auch des §11a Abs1 letzter Satz VersVG (betr die Zulässigkeit der Verwendung von Gesundheitsdaten durch Versicherer).
Der Versicherungswerber/Versicherungsnehmer besitzt gegenüber dem Versicherer regelmäßig einen Informationsvorsprung in Bezug auf das Vorliegen und die Beschaffenheit der einzelnen Risikoumstände für das Versicherungsverhältnis. Die Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers gegenüber dem Versicherer (vgl §16 VersVG) dient der Herstellung des Informationsgleichgewichts zwischen dem Versicherer und dem Versicherungswerber/Versicherungsnehmer. Diese Anzeigepflicht bezieht sich unter anderem auf medizinische Informationen und ärztliche Befunde, etwa über (geheilte) Vorerkrankungen oder sonstige gefahrenrelevante Tatsachen. Es ist anerkannt, dass es dem Versicherer erlaubt ist, den Abschluss des Versicherungsvertrages von der Durchführung bestimmter medizinischer Untersuchungen oder der Beibringung von Untersuchungsergebnissen abhängig zu machen. Der Versicherer kann diese Untersuchungen zwar nicht (direkt) durchsetzen; er kann aber nach den Grundsätzen der Privatautonomie den Vertragsabschluss zur Gänze ablehnen, die Behandlung bestimmter Krankheiten vom Versicherungsschutz ausnehmen oder beispielsweise nur zu höheren Prämien akzeptieren.
Eine verwandte Zielsetzung hat §11a VersVG, der die Verwendung von Gesundheitsdaten durch private Versicherer regelt. Zu den zulässigen Methoden der Ermittlung gehören unter anderem die Befragung der betroffenen Personen, aber auch Auskünfte von Dritten (zB Ärzten, Krankenanstalten), wenn der betroffene Versicherungswerber/Versicherungsnehmer im Einzelfall eine ausdrückliche Zustimmung erteilt.
Das Verbot des Informationsverlangens bzw der Verwendung der Information gemäß §67 GTG knüpft an die "genetische Analyse" (vgl §4 Z23 GTG), somit an eine bestimmte (labortechnische) Analysemethode. Die Methode als solche kann aber von vornherein nicht ein Kriterium für die Beurteilung der sachlichen Rechtfertigung für die unterschiedliche Regelung in Bezug auf Informationen sein.
Der Gesetzgeber selbst hat mit der Novelle BGBl I 127/2005 eine differenzierte (datenschutzrechtliche) Regelung in Bezug auf die unterschiedlichen Typen der genetischen Analysen getroffen (vgl §65 Abs1 GTG).
Bei genetischen Analysen des Typs 3 und 4 handelt es sich um prädiktive genetische Tests, auf die sich das Verbot des §67 GTG in seinem Kerngehalt bezieht und bei denen der Zweck dieser Regelung - das "Recht auf Nichtwissen" um eine genetische Veranlagung - besonders zum Tragen kommt. Auf Grund prädiktiver genetischer Analysen könnte der Betroffene von bestimmten genetischen Veranlagungen erfahren, die ihm vor der Durchführung der genetischen Analyse nicht bekannt waren. Der Betroffene würde diesfalls mit einer Diagnose belastet, von der er andernfalls noch nicht oder möglicherweise nie etwas erfahren hätte. Dem Gesetzgeber ist unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes nicht entgegenzutreten, wenn er den Versicherungswerber/Versicherungsnehmer in seinem aus Art8 EMRK ableitbaren "Recht auf Nichtwissen" schützt; und zwar auch dann, wenn der Versicherungswerber/Versicherungsnehmer das Ergebnis einer genetischen Analyse dem Versicherer auf eigene Initiative bzw allenfalls in seinem eigenen Interesse mitteilen will. Insoweit soll die Umgehung der in den angefochtenen Bestimmungen getroffenen Regelung verhindert werden.
Auch in Bezug auf genetische Analysen des Typs 2 ist das Verbot des §67 GTG sachlich gerechtfertigt: Genetische Analysen des Typs 2 dienen der Feststellung einer bestehenden Erkrankung, die auf einer Keimbahnmutation beruht. Im Gegensatz zu somatischen Mutationen werden Mutationen von Zellen der Keimbahn an Nachkommen vererbt. Auf Grund der besonderen Bedeutung, die Informationen über die genetische Disposition Dritter zukommt, ist dem Gesetzgeber nicht entgegenzutreten, wenn er die Erhebung und Verwendung von Ergebnissen genetischer Analysen des Typs 2 durch Versicherer verbietet.
Das Verbot der Erhebung und Verwendung von Ergebnissen genetischer Analysen ist jedoch im Hinblick auf genetische Analysen des Typs 1 nicht sachlich gerechtfertigt, weil sich solche Untersuchungsergebnisse nicht wesentlich von jenen aus "konventionellen" Untersuchungen unterscheiden.
Es ist nun kein Grund für den VfGH ersichtlich, der es rechtfertigen würde, dass Ergebnisse genetischer Analysen des Typs 1, die sich zum einen nur auf bereits bestehende Erkrankungen beziehen, die auf "Aussagen über konkrete somatische Veränderung von Anzahl, Struktur, Sequenz oder deren konkrete chemische Modifikationen von Chromosomen, Genen und DNA-Abschnitten" basiert, und die nach den Ergebnissen der mündlichen Verhandlung zum anderen mit herkömmlichen Untersuchungsmethoden vergleichbar sind, vom Verbot des §67 GTG erfasst werden.
Gegen die Zulässigkeit der Erhebung und Verwendung genetischer Analysen des Typs 1 durch den Versicherer kann auch nicht das Recht auf ("genetische") Privatsphäre (Art8 EMRK) oder das Recht auf Datenschutz (§1 DSG 2000) ins Treffen geführt werden. Zum Zeitpunkt, zu dem der Versicherungswerber/Versicherungsnehmer die genetische Analyse des Typs 1 durchführen lässt, ist ihm voraussetzungsgemäß die bestehende Krankheit bereits auf Grund einer "konventionellen" Untersuchung bekannt; der Versicherungswerber/Versicherungsnehmer ist nach §16 VersVG verpflichtet, dem Versicherer diese ihm bereits bekannte Krankheit anzuzeigen (bzw darf der Versicherer nach Maßgabe des §11a VersVG diese personenbezogenen Gesundheitsdaten ermitteln und verwenden). Weiters lassen Ergebnisse von genetischen Analysen des Typs 1 keine Rückschlüsse auf die genetische Disposition Dritter zu.
Es ist daher nicht zu erkennen, inwiefern die Verpflichtung des Versicherungswerbers zur Preisgabe der Ergebnisse einer genetischen Analyse des Typs 1 das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Privatheit gemäß Art8 EMRK oder auf Datenschutz gemäß §1 DSG 2000 verletzen könnte.
Die durch das ausnahmslose Verbot des §67 GTG iVm §11a VersVG bewirkte Ungleichbehandlung von Ergebnissen konventioneller Untersuchungen und von genetischen Analysen des Typs 1 iSd §65 Abs1 Z1 GTG ist somit sachlich nicht gerechtfertigt.
Da angefochtenen Bestimmungen, ein umfassendes, dh undifferenziertes Verbot für jegliche Verwendung der Ergebnisse aus genetischen Analysen statuieren, verstoßen sie gegen den Gleichheitssatz.