G31/2013 ua, V20/2013 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Aufhebung der Wortfolge "; Entsprechendes gilt bei einer im Rahmen einer Plenarversammlung vorgenommenen Abstimmung" in §24 Abs3 letzter Satz RAO idF BGBl I 141/2009.
Feststellung der Gesetzwidrigkeit des Abschnitts "A. II. RECHTSANWALTSANWÄRTER" der Umlagenordnung 2011 der Rechtsanwaltskammer Wien, des Abschnitts " B. RECHTSANWALTSANWÄRTER" in §1 sowie §3 Z2 und der Wortfolge "und der Beitrag für Rechtsanwaltsanwärter gemäß §1 B. P. 1 lita)" in §4 Z2 der Beitragsordnung 2011 der Rechtsanwaltskammer Wien sowie des §5 Abs3 und §9 Abs1 zweiter Satz der Geschäftsordnung der Rechtsanwaltskammer Wien und deren Ausschuss 2008 (GO-RAK 2008).
Präjudizialität auch der in Prüfung gezogenen Bestimmungen der GO-RAK 2008.
Dass einzelne Bestimmungen der GO-RAK 2008 - wie zB §5 Abs3 und §9 Abs1 zweiter Satz GO-RAK 2008 - bei der Abstimmung über die UmlagenO und die BeitragsO (bereits in Berücksichtigung der Änderungen der RAO durch das Berufsrechts-ÄnderungsG 2010 - BRÄG 2010, BGBl I 111/2010) nicht mehr tatsächlich angewendet worden wären, ändert nichts an der Präjudizialität der GO-RAK 2008 insgesamt und somit auch der in Prüfung gezogenen §5 Abs3 und §9 Abs1 zweiter Satz GO-RAK 2008. Es sind nämlich auch Vorschriften präjudiziell, die rechtmäßiger Weise anzuwenden gewesen wären.
Der VfGH hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken, dass nach der RAO alle Gruppen von Rechtsanwälten und Rechtsanwaltsanwärtern als Mitglieder der Rechtsanwaltskammer erfasst werden. Eine unterschiedliche Gewichtung der Stimmen und somit ein qualifiziertes Stimm- und Mitspracherecht bei Abstimmungen in der Plenarversammlung ist im Rahmen des (weiten) rechtspolitischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers in der Organisation der nichtterritorialen Selbstverwaltung zulässig, wenn die unterschiedliche Gewichtung auf Unterschieden im Tatsächlichen beruht, die mit der jeweiligen Angelegenheit zusammenhängen, und dem aus dem Gleichheitssatz erwachsenden Sachlichkeitsgebot genügt sowie mit dem sich aus Art120a und Art120c B-VG ergebenden demokratischen Prinzip vereinbar ist.
Nach Auffassung des VfGH gibt es jedoch nicht hinsichtlich sämtlicher der Plenarversammlung in §27 Abs1 RAO zugewiesenen Entscheidungsgegenstände eine sachliche Rechtfertigung (zB aufgrund höherer Verantwortung, größerer Befugnisse der Rechtsanwälte oder unterschiedlicher fachlicher Qualifikation) für die unterschiedliche Gewichtung der Stimmen von Rechtsanwälten und Rechtsanwaltsanwärtern. Gerade bei den unmittelbar die Rechtsanwaltsanwärter betreffenden Regelungen der UmlagenO (über die gemeinsame Versorgungseinrichtung) und der BeitragsO (etwa über den Beitrag der Rechtsanwaltsanwärter zur Prämie für die Unfallversicherung) ist keine sachliche Rechtfertigung für die unterschiedliche Stimmgewichtung für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter zu finden.
Die für alle Entscheidungsgegenstände in der Plenarversammlung geltende unterschiedliche Gewichtung der Stimmen von Rechtsanwälten und Rechtsanwaltsanwärtern in §24 Abs3 letzter Satz RAO ist somit verfassungswidrig, weil die dem demokratischen Prinzip innewohnende grundsätzliche Gleichheit der Stimme unterschiedslos durchbrochen wird, ohne dass hierfür ein entsprechend sachlicher Grund besteht. Dem Gesetzgeber stehen - soweit es sachlich ist - andere Möglichkeiten offen, unterschiedliche Interessenlagen der einzelnen in der (Rechtsanwalts-)Kammer versammelten Mitglieder zu berücksichtigen (beispielsweise durch ein Vetorecht).
Die Abstimmung über die Beschlussfassung der UmlagenO und der BeitragsO erfolgte in der Plenarversammlung der Rechtsanwaltskammer Wien am 29.04.2010 aufgrund des §24 Abs3 letzter Satz RAO. Bei der Prüfung, ob die BeitragsO bzw die UmlagenO gesetzmäßig zustande gekommen ist, war die Wortfolge "; Entsprechendes gilt bei einer im Rahmen einer Plenarversammlung vorgenommenen Abstimmung" in §24 Abs3 letzter Satz RAO anzuwenden. Da somit die genannte Wortfolge Erzeugungsbedingung für die BeitragsO und die UmlagenO war, erweisen sich die in Prüfung gezogenen Bestimmungen der UmlagenO und der BeitragsO als gesetzwidrig.
Da es sich bei den Rechtsanwaltsanwärtern seit 01.01.2010 um Mitglieder der Rechtsanwaltskammer (vgl §22 Abs1 RAO idF BGBl I 141/2009) handelt und §24 Abs3 RAO den Rechtsanwaltsanwärtern für Abstimmungen über jegliche Beschlussgegenstände durchgängig ein gewichtetes Stimmrecht einräumt, ist §5 Abs3 GO-RAK 2008, wonach Rechtsanwaltsanwärter berechtigt sind, ohne Stimmrecht an den Plenarversammlungen teilzunehmen, gesetzwidrig.
Gemäß §9 Abs1 zweiter Satz GO-RAK 2008 ist zur Gültigkeit eines Beschlusses (in der Plenarversammlung) die Stimmabgabe durch mindestens zwei Fünftel der Anwesenden notwendig. Diese Bestimmung verstößt gegen §27 Abs4 erster Satz RAO, wonach die Plenarversammlung, die ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit fasst, beschlussfähig ist, wenn mindestens ein Zehntel der Kammermitglieder an der Abstimmung teilnimmt. §9 Abs1 zweiter Satz GO-RAK 2008 verstößt daher gegen das Gesetz und ist somit nicht "im Rahmen der Gesetze" (Art120b Abs1 B-VG) ergangen.
Ausdehnung der Anlassfallwirkung auf die am 11.06.2013, dem Tag des Beginns der Beratung über das Erkenntnis, beim VfGH anhängigen Verfahren, bei denen Verordnungen präjudiziell sind, die unter Anwendung der Wortfolge "; Entsprechendes gilt bei einer im Rahmen einer Plenarversammlung vorgenommenen Abstimmung" in §24 Abs3 letzter Satz RAO erzeugt wurden.
(Anlassfälle B1021/2011, B1035/2011 und B1188/2011, alle E v 11.06.2013, Aufhebung der angefochtenen Bescheide; Quasi-Anlassfälle B915/2011 und B964/2011, beide E v 26.06.2013).