B362/78 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (vgl. z. B. Slg. 6128/1970 und die dort zit. Vorjudikatur) u. a. dann verletzt, wenn die Berufungsbehörde einen anderen Sachverhalt zum Gegenstand ihrer Berufungsentscheidung macht als die Verwaltungsstrafbehörde erster Instanz. Der VfGH ist aber der Auffassung, daß unter den vorliegenden Umständen nach dem Willen der Behörde Gegenstand der Verwaltungsstrafverfahren sowohl der ersten als auch der zweiten Instanz das Verhalten der Bf. am 28. Juni 1976 in der Herrengasse in Feldkirch (und nicht ihr Verhalten vom 24. Juni 1976 in der Montfortgasse in Feldkirch) war.
Wie der VfGH im Erk. Slg. 8483/1979 dargetan hat, wird das durch {Europäische Menschenrechtskonvention Art 6, Art. 6 Abs. 2 MRK} verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht u. a. dann verletzt, wenn in einem Verwaltungsstrafverfahren bei der Strafbemessung eine Vorstrafe als erschwerender Umstand berücksichtigt wird, die noch nicht formell rechtskräftig ist. Die Erhebung einer VfGH-Beschwerde oder VwGH-Beschwerde hindert, auch wenn ihr die aufschiebende Wirkung zuerkannt wird, nicht den Eintritt der formellen Rechtskraft und daher auch nicht die Berücksichtigung der in Beschwerde gezogenen Strafe als Vorstrafe und damit als erschwerender Umstand. Die MRK bildet hingegen keinen Maßstab dafür, zu welchem Zeitpunkt die formelle Rechtskraft der Vorstrafe eingetreten sein muß, damit die Vorstrafe in einem anderen Verwaltungsstrafverfahren berücksichtigt werden darf.
{Verwaltungsstrafgesetz 1991 § 19, § 19 Abs. 2 VStG} i. d. F. der mit 1. März 1978 in Kraft getretenen Nov. BGBl. 117/1978 bestimmt u. a., daß bei der Strafbemessung auf das Ausmaß des Verschuldens besonders Bedacht zu nehmen ist; unter Berücksichtigung der Eigenart des Verwaltungsstrafrechtes sind die Bestimmungen der §§ 32 und 35 StGB sinngemäß anzuwenden. Nach § 33 Z 2 StGB ist es insbesondere ein Erschwerungsgrund, wenn der Täter schon wegen einer auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Tat verurteilt worden ist. Zunächst ist die Meinung, von der die bel. Beh. offenbar ausgegangen sind, daß es auf die Rechtskraft der berücksichtigten Vorstrafe zum Zeitpunkt der Erlassung des letztinstanzlichen Bescheides ankomme, nicht denkunmöglich (vgl. VfGH Slg. 8483/1979) . Weiters ist die Annahme der Behörden nicht ausgeschlossen, daß die bei der Strafbemessung berücksichtigten Taten als solche zu beurteilen seien, die auf der gleichen schädlichen Neigung beruhen. Auch die weitere Annahme, von der die bel. Beh. in den bekämpften Bescheiden offenbar ausgeht, daß nämlich " Verurteilungen" i. S. des {Strafgesetzbuch § 33, § 33 Z 2 StGB} vorliegen, ist denkmöglich.