B504/77 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
§ 19 VStG 1950 in der zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung geltenden Fassung sah lediglich vor, daß die Strafe grundsätzlich innerhalb der Grenzen des gesetzlichen Strafsatzes zu bemessen ist, wobei im ordentlichen Verfahren u. a. die mildernden und erschwerenden Umstände zu berücksichtigen sind. Zur Frage der mildernden und erschwerenden Umstände enthielt zwar das VStG zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Bescheide nur die Bestimmungen der §§ 3 Abs. 2 und 55 Abs. 2, jedoch kamen schon damals sinngemäß die im gerichtlichen Strafrecht geltenden Bestimmungen zur Anwendung (vgl. Slg. 6896/1972) . Nach {Strafgesetzbuch § 33, § 33 Z 2 StGB} ist es insbesondere ein Erschwerungsgrund, wenn der Täter schon wegen einer auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden Tat verurteilt worden ist. Die Meinung der bel. Beh., daß es auf die Rechtskraft der berücksichtigten Vorstrafe zum Zeitpunkt der Erlassung des letztinstanzlichen Bescheides ankomme, ist nicht denkunmöglich. Das VStG enthält darüber keine ausdrückliche Vorschrift. Immerhin ist es - trotz des § 1 Abs. 2 VStG - nicht unvertretbar, diesen Schluß aus {Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz § 66, § 66 Abs. 4 AVG} in Verbindung mit § 24 VStG und aus § 51 Abs. 4 VStG zu ziehen, wonach die Verwaltungsstrafbehörde zweiter Instanz zwar keine Strafverschärfung verfügen darf, aber ansonsten ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde setzen kann.
Nach dem auf Verfassungsstufe stehenden {Europäische Menschenrechtskonvention Art 6, Art. 6 Abs. 2 MRK} wird bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld vermutet, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist. Diese Bestimmung gebietet zunächst, daß das erkennende Organ bei Erfüllung seiner Aufgaben nicht von der Überzeugung oder der Annahme ausgehen darf, der Angeklagte (Beschuldigte) habe die ihm zur Last gelegte Tat begangen. Diese verfassungsrechtliche Vorschrift verbietet darüber hinaus auch, an ein bestimmtes strafbares Verhalten einer Person in einem ein anderes Verhalten dieser Person betreffenden Verfahren für diese Person nachteilige Folgen zu knüpfen, solange nicht im Strafverfahren der "gesetzliche Nachweis ihrer Schuld" erbracht ist. Die MRK besagt zwar nicht selbst, wodurch der "gesetzliche Nachweis der Schuld" erbracht wird; dies zu bestimmen, überläßt sie vielmehr grundsätzlich dem innerstaatlichen Gesetzgeber, der verhalten ist, eine dem Art. 6 MRK entsprechende Regelung zu treffen.
Derart enthält aber die MRK ein Gebot, nämlich die innerstaatliche Regelung, wodurch der Schuldnachweis erbracht wird, zu beachten. Nach dem System des österreichischen Verwaltungsstrafrechts - und somit auch i. S. der MRK - ist der Schuldnachweis jedenfalls mit der verurteilenden Entscheidung der zweiten Instanz erbracht, auch wenn in der Folge noch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts angerufen werden sollten. Das durch {Europäische Menschenrechtskonvention Art 6, Art. 6 Abs. 2 MRK} verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht wird sohin (u. a.) dann verletzt, wenn in einem Verwaltungsstrafverfahren bei der Strafbemessung eine Vorstrafe als erschwerender Umstand berücksichtigt wird, die noch nicht formell rechtskräftig ist.
Dafür, zu welchem Zeitpunkt die formelle Rechtskraft der Vorstrafen eingetreten sein muß, um in einem anderen Verwaltungsstrafverfahren als erschwerender Umstand bei der Strafbemessung berücksichtigt werden zu dürfen, enthält die MRK weder ausdrücklich noch bloß implizit irgendeine Regelung; in dieser Hinsicht kann der MRK kein Gebot entnommen werden. Es kann diese Frage daher nicht unter dem Gesichtspunkt des {Europäische Menschenrechtskonvention Art 6, Art. 6 Abs. 2 MRK} behandelt werden.