JudikaturVfGH

G94/78 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
26. Januar 1979

§ 138 Abs. 1 des Gesetzes vom 25. Juli 1871, RGBl. 75, betreffend die Einführung einer neuen Notariatsordnung, i. d. F. BGBl. 139/1962, wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Das Erk. Slg. 6767/1972 stützte sich im wesentlichen auf das Vorerkenntnis Slg. 2978/1956, in welchem festgestellt wurde, daß der in Art. 102 Abs. 1 B-VG enthaltene Grundsatz über die Betrauung des Landeshauptmannes mit Aufgaben der Bundesverwaltung in bezug auf die Tätigkeit von Organen der Selbstverwaltung nur dann Anwendung findet, wenn diese in unterster Instanz zur Besorgung von Verwaltungsaufgaben im übertragenen Wirkungsbereich berufen sind. Hieraus läßt sich jedoch der mit Erk. Slg. 6767/1972 gezogene Schluß nicht ableiten, daß schon deshalb der gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 102, Art. 102 Abs. 1 B-VG} festgelegte Grundsatz, daß der Landeshauptmann die Vollziehung des Bundes im Bereich der Länder ausübt, ausgeschaltet ist, wenn Selbstverwaltungskörper in unterster Instanz im eigenen Wirkungsbereich tätig werden. Dies gilt nur dann, wenn ein Instanzenzug innerhalb des Selbstverwaltungskörpers eingerichtet ist, der zu einem übergeordneten Selbstverwaltungsorgan führt. Wird dagegen ein Instanzenzug an ein Organ der staatlichen Verwaltung eröffnet, so gilt der Grundsatz des Abs. 1 des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 102, Art. 102 B-VG}, daß dem Landeshauptmann die Vollziehung des Bundes in den Ländern zusteht, es sei denn, daß Abs. 2 unmittelbare Bundesverwaltung durch Bundesbehörden erlaubt, oder ein Fall des Abs. 4 vorliegt. In diesem Sinne sieht sich der VfGH veranlaßt, von der von ihm mit Erk. Slg. 6767/1972 geäußerten Ansicht abzurücken.

Der VfGH pflichtet der Bundesregierung bei, daß den Begriffen "Justizpflege" in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG} und "Justizwesen" in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 102, Art. 102 Abs. 2 B-VG} schon infolge der sprachlichen Differenzierung ein unterschiedlicher Inhalt beigemessen werden muß, weil nicht angenommen werden kann, daß der Bundesverfassungsgesetzgeber zur Bezeichnung ein- und derselben Materie zwei sprachlich unterschiedliche Begriffe verwendet hatte.

Weder die stenographischen Protokolle über die Sitzungen der Konstituierenden Nationalversammlung, in welchen die Lesungen des B-VG stattfanden (100. bis 102. Sitzung vom 29. und 30. September, sowie vom 1. Oktober 1920) , noch die Protokolle des Verfassungsausschusses, des Unterausschusses des Verfassungsausschusses und ebensowenig die Entwürfe zum B-VG geben darüber Aufschluß, welcher Inhalt den Begriffen "Justizpflege" und "Justizwesen" beizumessen ist. Aus dem Protokoll der 15. Sitzung des Unterausschusses des Verfassungsausschusses vom 14. September 1920 geht hervor, daß damals sowohl in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 102, Art. 102 Abs. 2 B-VG} (damals Art. 92 Abs. 2 des Entwurfes) als auch in Art. 10 gleichermaßen der Begriff "Justizwesen" verwendet wurde, dem in Art. 10 Abs. 1 Z 6 des Entwurfes des B-VG die "Angelegenheiten der Notare, der Rechtsanwälte und verwandter Berufe" als eigener Kompetenztatbestand gegenübergestellt war. Bei den am 24. September 1920 stattgefundenen Beratungen des Verfassungsausschusses wurde jedoch - wie sich aus dem handschriftlichen Protokoll dieser Sitzung ergibt - beschlossen, in Art. 10 den Ausdruck "Justizwesen" durch "Justizpflege" zu ersetzen, so daß sich im Entwurf des B-VG (991 Blg. zu den sten. Prot. der Konstituierenden Nationalversammlung) die unterschiedliche Verwendung der Begriffe "Justizpflege" in Art. 10 Abs. 1 Z 6 und "Justizwesen" in Art. 103 (nunmehr Art. 102) findet. Aus welchen Gründen dies geschah, geht aus den Materialien nicht hervor.

Unter diesen Umständen ist der VfGH der Meinung, der Auslegung des Begriffes "Justizwesen" jenes Verständnis zugrundelegen zu müssen, das man von ihm zur Zeit hatte, als Art. 102 B-VG in Kraft getreten ist (10. November 1920) . Zu untersuchen ist hiebei, von welchen Behörden "die Angelegenheiten der Notare" bis dahin vollzogen wurden, wobei davon auszugehen ist, daß der Gesetzgeber, wenn er eine Änderung gewollt hätte, dies auch zum Ausdruck gebracht hätte. Dafür, daß eine Änderung nicht beabsichtigt wurde, spricht auch das Protokoll der 15. Sitzung des Unterausschusses des Verfassungsausschusses vom 14. September 1920, das hinsichtlich der Angelegenheiten, die gemäß Art. 92 Abs. 2 des Entwurfes (nunmehr {Bundes-Verfassungsgesetz Art 102, Art. 102 Abs. 2 B-VG} unmittelbar von Bundesbehörden vollzogen werden dürfen, wörtlich ausführt "vom gegenwärtigen Zustand weiche der Zustand nur insoweit ab, als die politische Behörde als verländert angesehen wird" . Der Gerichtshof pflichtet der Bundesregierung auch darin bei, daß der Bundesverfassungsgesetzgeber in diesem Zeitpunkte eine Regelung vorgefunden hat, wie sie für Notare in ihren Grundzügen vom Gesetzgeber bereits im Jahre 1871 festgelegt worden war. Er stimmt der Bundesregierung auch zu, daß das besondere Naheverhältnis der Tätigkeiten der Notare zur Justiz in den zahlreichen Aufgaben, die Organen der Justiz in Beziehung auf die Notare und deren Tätigkeiten zukommen - beispielsweise durch die Bestimmungen der Notariatsordnung betreffend die Zahl der Notarstellen und die Verlegung des Amtssitzes (§ 9) , die Ernennung und Enthebung von Notaren (§§ 10 ff., 18 Abs. 2 und 19 Abs. 2) , die Angelobung (§§ 15 bis 18) und für die Überwachung der Amtsführung in bestimmten Fällen (§ 153) - seinen Ausdruck fand. Dieser in den Bereich des Notariatswesens hineinreichende Aufgabenkreis der Justiz fand, worauf die Bundesregierung ebenfalls zu Recht verweist, seinen Niederschlag schon in der Verordnung des Justizministers vom 5. Mai 1897, RGBl. 112, womit eine Geschäftsordnung für die Gerichte erster und zweiter Instanz erlassen wurde. § 24 Z 13 dieser Verordnung zählt zu den " Präsidialsachen (Justizverwaltungssachen)" auch die " Advokatursangelegenheiten und Notariatsangelegenheiten" . Auch in der Literatur finden sich wiederholte Hinweise darauf, daß die Justizverwaltung im Zeitpunkt des Inkrafttretens des B-VG auch die Angelegenheiten der Notare umfaßte.

Der VfGH ist zusammenfassend der Ansicht, daß die in Rede stehenden Angelegenheiten der Notare im Zeitpunkte des Inkrafttretens des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 102, Art. 102 B-VG} als "Justizverwaltung" in unmittelbarer Staatsverwaltung besorgt wurden und daß der Bundesverfassungsgesetzgeber mit dem Begriff "Justizwesen" jedenfalls auch diese Angelegenheiten erfassen wollte.

An diesem Ergebnis ändert auch nichts, daß durch die Nov. BGBl. 139/1962 die Befugnisse der Notare erweitert wurden. Auch bei den neu hinzugekommenen Aufgaben handelt es sich durchwegs um Tätigkeiten, die Befugnissen entsprechen, die vor dem 10. November 1920 bereits von Rechtsanwälten wahrgenommen wurden. Die vorausgehenden historischen Ausführungen im Zusammenhalt mit den Bestimmungen der Rechtsanwaltsordnung vom 6. Juli 1868, RGBl. 96, zeigen, daß auch die Angelegenheiten der Rechtsanwälte gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG} aus den gleichen Gründen, die für die Angelegenheiten der Notare gelten, dem Bereich des "Justizwesens" gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 102, Art. 102 Abs. 2 B-VG} zugehören. Die Erweiterung der Befugnisse der Notare entsprechend der durch BGBl. 139/1962 novellierten Fassung des § 5 Notariatsordnung hat daher den Bereich des "Justizwesens" nicht überschritten.

Hiemit aber steht § 138 Abs. 1 NotariatsO auch i. d. F. BGBl. 139/1962 nicht im Widerspruch zu {Bundes-Verfassungsgesetz Art 102, Art. 102 B-VG}.

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