JudikaturVfGH

B4/77 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
12. Oktober 1978

Über einen Antrag auf Gewährung von Leistungen aus der Versorgungseinrichtung einer Rechtsanwaltskammer hat der Ausschuß der Rechtsanwaltskammer zu entscheiden ({Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 54, § 54 Rechtsanwaltsordnung}) .

Dieser ist dabei als Organ der Selbstverwaltungseinrichtung tätig. Im Rahmen dieser Einrichtung ist ein Instanzenzug gegen eine Entscheidung des Ausschusses über einen Antrag auf Gewährung von Leistungen aus der Versorgungseinrichtung im Gesetz nicht vorgesehen, im besonderen ist in diesen Angelegenheiten auch der Plenarversammlung ({Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 27, § 27 Abs. 1 RAO}) eine Zuständigkeit zur Entscheidung über Beschlüsse des Ausschusses als Berufungsinstanz nicht zugewiesen. Auf dem Gebiete der Selbstverwaltung bedarf es zur Einräumung eines Rechtsmittels an ein Organ der staatlichen Verwaltung einer ausdrücklichen Bestimmung (vgl. Slg. 6305/1970, 8225/1977) . In der Materie der Gewährung von Leistungen aus der Versorgungseinrichtung einer Rechtsanwaltskammer ist ein solcher Rechtszug nicht vorgesehen. Der Instanzenzug ist erschöpft.

Der VfGH ist der Auffassung, daß unter dem in {Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 50, § 50 Abs. 2 Z 1 RAO} enthaltenen Wort "Witwe" nach dem eindeutigen Inhalt dieses vom Gesetzgeber gebrauchten Begriffes nur die Frau verstanden werden kann, die mit dem Rechtsanwalt im Zeitpunkt seines Todes durch das Band der Ehe verbunden gewesen ist. Der Gesetzgeber hat, wenn auch der geschiedenen Ehegattin ein Anspruch auf Versorgungsleistungen eingeräumt wurde, ausdrücklich zum Ausdruck gebraucht, daß die frühere Ehefrau zu dem Kreis der hinterbliebenen Personen, die Anspruch auf Versorgungsleistungen haben, gehört. Als frühere Ehefrau ist die Frau zu verstehen, deren Ehe für nichtig erklärt, aufgehoben oder geschieden worden ist (vgl. § 1 Abs. 3, 4 und 6 Pensionsgesetz 1965, BGBl. 340/1965, vgl. ferner {Allgemeines Sozialversicherungsgesetz § 258, § 258 Abs. 4 ASVG}, § 77 Abs. 4 GSPVG, {Bundes-Personalvertretungsgesetz § 73, § 73 Abs. 4 B-PVG}, § 54 Abs. 2 Notarversicherungsgesetz, § 43 f Abs. 3 Ärztegesetz i. d. F. BGBl. 229/1964) . Nach dem Inhalt der Bestimmung des § 50 Abs. 1 und Abs. 2 Z 1 RAO steht der früheren (geschiedenen) Frau eines Rechtsanwaltes ein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung, da ein solcher weder nach diesen noch nach anderen Bestimmungen des Gesetzes begründet ist, nicht zu.

Hinsichtlich der Ansprüche auf Versorgungsleistungen besteht demnach durch diese Regelung eine unterschiedliche Behandlung der früheren Ehefrau eines Rechtsanwaltes in zweifacher Hinsicht, und zwar im Verhältnis zur Witwe eines Rechtsanwaltes und im Verhältnis zu früheren Ehefrauen, denen in anderen Vorschriften ein Anspruch auf Versorgungsleistungen eingeräumt ist. Der VfGH hat gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung der RAO unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes keine Bedenken. Er hat in seinem Erk. Slg. 3670/1960 ausgeführt, daß es sich bei der Sozialversicherung um ein verhältnismäßig neues Sachgebiet handelt, das durch eine stete Fortentwicklung sowohl was den Kreis der Versicherten als auch den Gegenstand der Versicherung anlangt, gekennzeichnet ist. Die Sozialversicherungsgesetzgebung ist - neben anderen - eine Einrichtung, die den Wandel in den Auffassungen über die Aufgaben des Staates auf dem Gebiete der Sozialordnung veranschaulicht. Für die Fortentwicklung der Vorschriften, in denen vom Gesetzgeber für die frühere Ehefrau Ansprüche auf Versorgungsleistungen begründet wurden, ergibt sich folgendes Bild: Die in {Allgemeines Sozialversicherungsgesetz § 258, § 258 Abs. 4 ASVG} als Pflichtleistung vorgesehene Gewährung der Witwenpension an die frühere Ehefrau war im früheren Recht ( § 1256 Abs. 4 RVO) nur als eine Kann-Leistung vorgesehen, die der Zustimmung des BM für soziale Verwaltung in jedem Einzelfall bedurfte (vgl. FN 5 zu § 258 ASVG in der Sammlung Das Österreichische Recht, IX, Sozialrecht und Arbeitsrecht, d Sozialversicherung, S. 446) . Im Zuge der Ausdehnung des im ASVG und damit im wesentlichen nur für die unselbständige Erwerbstätigen vorgesehenen sozialversicherungsrechtlichen Schutzes auf die gewerblich und in der Landwirtschaft und Forstwirtschaft selbständig tätigen Personen hat der Gesetzgeber die Regelung des ASVG über den Anspruch der früheren Ehefrau auf Witwenpension in die entsprechenden Gesetze übernommen (§ 77 Abs. 4 GSPVG und {Bundes-Personalvertretungsgesetz § 73, § 73 Abs. 4 B-PVG}) . Im Bereich der freiberuflich tätigen Personen hat der Gesetzgeber nur die Notare zu einer Riskengemeinschaft zusammengeschlossen und für die Durchführung der Sozialversicherung einen eigenen Sozialversicherungsträger (die Versicherungsanstalt des österreichischen Notariats) geschaffen. Der Anspruch auf Versorgungsleistungen wurde der früheren Ehefrau erst durch die Nov. zum NVG 1938, BGBl. 174/1951 (§ 14 Abs. 1 Z 1 lit. b) sichergestellt. Im Bereich der freiberuflich tätigen Ärzte und Rechtsanwälte hat der Gesetzgeber davon abgesehen, zur Durchführung der Sozialversicherung eine eigene Riskengemeinschaft des in Betracht kommenden Personenkreises und einen eigenen Sozialversicherungsträger zu schaffen. Er hat den in Betracht kommenden Personenkreis auch nicht in eine andere nach sozialversicherungsrechtlichen Regelungen bestehende Riskengemeinschaft einbezogen. Er hat vielmehr die gesetzlichen beruflichen Interessenvertretungen (Ärztekammern und Rechtsanwaltskammern) beauftragt, im Rahmen ihrer Selbstverwaltung Einrichtungen zur Versorgung ihrer Mitglieder für den Fall des Alters und der Berufsunfähigkeit sowie zur Versorgung der Hinterbliebenen für den Fall des Todes des Mitgliedes einer Ärztekammer oder Rechtsanwaltskammer mit einer zu beschließenden Satzung zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Im Rahmen der von den Ärztekammern geschaffenen Versorgungseinrichtungen hat der Gesetzgeber in der Nov. zum ÄrzteG, BGBl. 229/1969, einen Anspruch der früheren Ehefrau auf Witwenversorgung festgelegt. Diese Regelung war in der RV zu dieser Nov. (vgl. 1261 Blg. NR, XI. GP) noch nicht enthalten, sondern wurde erst bei der Beratung im Ausschuß für soziale Verwaltung in den zu beschließenden Gesetzeswortlaut (vgl. 1326 Blg.) aufgenommen.

Für die von den Rechtsanwaltskammern zu schaffenden Einrichtungen ist darauf zu verweisen, daß - neben den in der Umlagenordnung festzusetzenden Beiträgen für die Versorgungseinrichtung ({Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 53, § 53 Abs. 1 RAO}) - die Pauschalvergütung, die der Bund dem Österreichischen Rechtsanwaltskammertag für die auf Grund der Bewilligung der Verfahrenshilfe ({Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 45, § 45 Abs. 1 RAO}) vorzunehmende Bestellung von Rechtsanwälten durch die Rechtsanwaltskammern, zu zahlen hat, für die Altersversorgung, Berufsunfähigkeitsversorgung und Hinterbliebenenversorgung der Rechtsanwälte zu verwenden ist ({Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 48, § 48 Abs. 2 RAO}) . Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß der Gesetzgeber sowohl in den Bereichen der Sozialversicherung, in denen ein durch eine bestimmte Tätigkeit charakterisierter Personenkreis zu einer Riskengemeinschaft zusammengeschlossen und zur Durchführung der Sozialversicherung eigene Sozialversicherungsträger geschaffen wurden, als auch in dem Bereich, in dem die Schaffung von Einrichtungen für die Altersversorgung, Berufsunfähigkeitsversorgung und Hinterbliebenenversorgung den gesetzlichen beruflichen Interessenvertretungen (Ärztekammern und Rechtsanwaltskammern) überlassen wurde, in einer schrittweisen Fortentwicklung Ansprüche der früheren Ehefrauen auf Versorgungsleistungen festgelegt hat.

Dabei war es jeweils eine vom Gesetzgeber im Rahmen seiner Dispositionsbefugnisse vorzunehmende rechtspolitische Entscheidung, ob und in welchem Umfang der früheren Ehefrau in einer nach einem der angeführten Systeme einzurichtenden Hinterbliebenenversorgungs- Ansprüche auf Versorgungsleistungen zuerkannt wurden. Bei einer solchen schrittweisen Anpassung an die Entwicklung ist es unvermeidlich, daß nicht alle im Laufe der Entwicklung auftretenden Fälle gleichzeitig erfaßt werden (vgl. Slg. 6758/1972) . Der VfGH ist aus diesen Erwägungen der Auffassung, daß die Regelung des {Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 50, § 50 Abs. 2 Z 1 RAO}, nach der der Anspruch auf Versorgungsleistungen auf die Witwe eines Rechtsanwaltes beschränkt ist und die frühere Ehefrau eines Rechtsanwaltes nicht berücksichtigt wird, mit dem Gleichheitsgebot nicht in Widerspruch steht.

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