§ 155 des Gesetzes vom 25. Juli 1871, RGBl. 75, betreffend die Einführung einer neuen Notariatsordnung, Fassung BGBl. 65/1969, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Der VfGH hat in Verfolg seiner bisherigen Rechtsprechung keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, daß Disziplinarbestimmungen im Bereiche des Dienstrechtes der Beamten oder in Bereichen eines Standesrechtes den Begriffsinhalt der Standespflichten dermaßen umschreiben, daß es der Beurteilung der Disziplinarbehörde obliegt, aus den allgemeinen gesellschaftlichen Anschauungen und den gefestigten Gewohnheiten des Beamtenstandes oder Berufsstandes zu ermitteln, ob in einem bestimmten Verhalten ein Dienstvergehen oder Standesvergehen zu erblicken ist. Es genügt, diesbezüglich auf das Erk. Slg. 7907/1976 und die dort zitierte Vorjudikatur zu verweisen.
Der VfGH hat in dieser Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, daß die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe, die durch eine unscharfe Abgrenzung gekennzeichnet sind, nur dann zulässig ist, wenn deren Inhalt so weit bestimmbar ist, daß der Rechtsunterworfene sein Verhalten danach einrichten kann. Auch daß die Verwendung solcher unbestimmter Rechtsbegriffe mit {Bundes-Verfassungsgesetz Art 18, Art. 18 B-VG} nur dann vereinbar ist, wenn das Verhalten der Behörde auf seine Übereinstimmung mit dem Gesetz überprüft werden kann, hat der VfGH wiederholt ausgesprochen (vgl. z. B. Slg. 6477/1971 und die dort angeführte Vorjudikatur) .
Diesem Erfordernis muß auch dann entsprochen sein, wenn die standesrechtliche Aufsicht über das Verhalten von Berufsangehörigen so geregelt ist, daß die Wahrnehmung und Ahndung bestimmter Verstöße gegen Berufspflichten in die Zuständigkeit der Standesorganisation als Selbstverwaltungsbehörde fällt, hingegen für andere Berufspflichtverletzungen Disziplinargerichte zuständig sind. Die Normen müssen es ermöglichen, die Inanspruchnahme der Zuständigkeit durch eine der beiden Behörden dermaßen nachzuprüfen, daß sich diese als richtig oder falsch erweist. Eine Regelung, die offenläßt, wann die Verwaltungsbehörde und wann das Gericht zur Entscheidung berufen ist, ist mit {Bundes-Verfassungsgesetz Art 83, Art. 83 Abs. 2 B-VG} nicht vereinbar. Wird durch die Unbestimmtheit der Regelung die Abgrenzung der Zuständigkeit zwischen einer Verwaltungsbehörde und einem Gericht betroffen, liegt hierin auch ein Verstoß gegen den Trennungsgrundsatz des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 94, Art. 94 B-VG}.
Der Wortlaut der Bestimmungen des § 155 und des § 157 NO lassen eine eindeutige Auslegung und damit eine eindeutige Abgrenzung nicht zu.
Die Gesetzesmaterialien zeigen, daß sich der Gesetzgeber dessen bewußt war, keine zweifelsfreie Abgrenzung zwischen Ordnungswidrigkeiten und Disziplinarvergehen geschaffen zu haben, was vor dem Hintergrund der damaligen Verfassungslage unbedenklich gewesen sein mochte. Der Gesetzgeber nahm vielmehr eine unpräzise Regelung der Tatbestände bewußt in Kauf, zumal es ihm in erster Linie darum ging, dem Oberlandesgericht gegenüber der Notariatskammer die "höhere Judikatur" zu sichern. Dies ist aber nach der geltenden Verfassungsrechtslage mit Art. 94 B-VG unvereinbar, da es auf eine Kontrolle der Verwaltung durch das Gericht hinausläuft. All dies läßt es nicht zu, aus der Absicht des Gesetzgebers darauf zu schließen, daß die §§ 155 und 157 zweiter Fall NO objektive Kriterien enthalten, die eine Abgrenzung zwischen dem Benehmen eines Notars, welches als Ordnungswidrigkeit in die Zuständigkeit der Notariatskammer oder als Disziplinarvergehen in die Zuständigkeit des Gerichtes fällt, ermöglichen. Die in Prüfung gezogene Bestimmung des § 155 Abs. 1 NO erweist sich demnach als verfassungswidrig. Sie gestattet keine nach objektiven Gesichtspunkten feststellbare Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit der Notariatskammer und der Zuständigkeit des Disziplinargerichtes. Dies verstößt sowohl gegen den Trennungsgrundsatz des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 94, Art. 94 B-VG} als auch gegen {Bundes-Verfassungsgesetz Art 83, Art. 83 Abs. 2 B-VG}. Die Unbestimmtheit der Regelung ist auch im Widerspruch zu {Bundes-Verfassungsgesetz Art 18, Art. 18 B-VG}. Die Bestimmung war deshalb als verfassungswidrig aufzuheben. Das Gleiche gilt für die Abs. 2 bis 4 des § 155 NO, da diese Bestimmungen mit Abs. 1 dieses Paragraphen inhaltlich eine Einheit bilden.
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