G21/77 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Die im § 74 Abs. 1 Zivildienstgesetz, BGBl. 187/1974, i. d. F. BGBl. 235/1977 enthaltenen Worte "bis zum 31. Dezember 1975" werden als verfassungswidrig aufgehoben.
Art. 9 a Abs. 3 B-VG überläßt die nähere Regelung, unter welchen Voraussetzungen die Leistung eines Ersatzdienstes in Betracht kommt, dem einfachen Bundesgesetzgeber. Da die Verfassungsbestimmung des § 2 Abs. 1 ZDG hingegen die Erlassung von Vorschriften durch den einfachen Bundesgesetzgeber weder anordnet noch verbietet, liegt ein Widerspruch zwischen den bezogenen Verfassungsnormen nicht vor. Daß der später erlassene Art. 9 a Abs. 3 B-VG in die durch § 2 Abs. 1 ZDG getroffene Regelung eingreife oder den einfachen Bundesgesetzgeber ermächtige, von der Verfassungsbestimmung des § 2 ZDG abweichende Vorschriften zu erlassen - was bedeuten würde, daß dieser Bestimmung derogiert wäre -, ist weder dem Wortlaut noch der Entstehungsgeschichte des Art. 9 a Abs. 3 B-VG zu entnehmen; aus den Gesetzesmaterialien geht vielmehr deutlich hervor, daß der Verfassungsgesetzgeber bei der Erlassung des Art. 9 a Abs. 3 B-VG einen Eingriff in den durch § 2 Abs. 1 ZDG geregelten Bereich nicht beabsichtigte. Der VfGH hält daher an seiner (außer in den Erk. Slg. 8027/1977 und 8033/1977) vertretenen Ansicht fest, daß § 2 Abs. 1 leg. cit. durch Art. 9 a Abs. 3 B-VG nicht verändert wurde.
§ 2 Abs. 1 ZDG sieht die Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung unter der Voraussetzung vor, daß der Wehrpflichtige die hier näher umschriebenen schwerwiegenden Gewissensgründe glaubhaft macht. Der Bundesgesetzgeber kann davon ausgehen, daß die Bildung der subjektiven Überzeugung, die Anwendung von Waffengewalt gegen Menschen sei schlechthin abzulehnen, und auch die Änderung der persönlichen Einstellung in Richtung einer solchen Gewissensentscheidung bei der gebotenen Durchschnittsbetrachtung nicht das Ergebnis eines kurzfristigen, sondern eines längerwährenden psychischen Vorgangs ist. Er ist aus diesem Grund zwar befugt, Regelungen zu treffen, welche die Bedachtnahme auf innerhalb kürzerer Zeiträume angeblich gebildete neue Anschauungen ausschließen, und in diesem Zusammenhang entsprechende Befristungen für eine Antragstellung auf Wehrpflichtbefreiung zwecks Zivildienstleistung vorzusehen. Verwehrt ist dem Bundesgesetzgeber hingegen eine Gestaltung der Rechtslage dahin, daß nur die Gewissensentscheidung des Wehrpflichtigen innerhalb eines bestimmten kürzeren Zeitraums zur Leistung des Ersatzdienstes führen kann, nicht aber eine später gebildete glaubhafte Überzeugung. Eine solche dem Bundesgesetzgeber verwehrte Regelung enthält jedoch § 74 Abs. 1 ZDG, der die gesamte weitere Behandlung des Wehrpflichtigen bis zum Ende seiner Wehrpflicht, also unter Umständen durch Jahrzehnte hindurch, von seiner subjektiven Anschauung in einem einzigen Jahr abhängig macht und insoweit eine ganze Gruppe von Wehrpflichtigen von einer möglichen Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung ausnimmt. § 74 Abs. 1 ZDG ist sohin in seinem den Prüfungsgegenstand bildenden Teil mit der Verfassungsbestimmung des § 2 Abs. 1 dieses Gesetzes nicht vereinbar.