B102/75 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Die bel. Beh. vertritt unter Hinweis auf die Rechtsprechung des VwGH (siehe überdies dessen Erk. vom 23. Oktober 1957, Z 2510/55 und vom 16. Dezember 1975, Z 1358/75) die Auffassung, daß die Finanzstrafbehörde solange von den den Abgabenbescheiden zugrundeliegenden Sachverhaltsannahmen ausgehen könne, als nicht von der Bf. gewichtige Gründe ins Treffen geführt und verfahrensmäßig erhärtet würden, die geeignet seien, diese Annahme zu erschüttern; insoweit treffe aber die Bf. die Beweislast. Nach Ansicht des VfGH steht diese Rechtsauffassung der bel. Beh. zu zwingenden Vorschriften des Finanzstrafgesetzes über das verwaltungsbehördliche Finanzstrafverfahren in einem derart offenkundigen Widerspruch, daß man insoweit von einer denkmöglichen Gesetzeshandhabung nicht mehr sprechen kann. So ordnet der § 98 FinStrG in seinem Abs. 3 (vorbehaltlos) an, daß die Finanzstrafbehörde unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Verfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen hat, ob eine Tatsache erwiesen ist oder nicht. Die unkritische Übernahme eines Sachverhaltes, der einem rechtskräftigen Abgabenbescheid zugrundegelegt wurde, in der von der bel. Beh. angenommenen Weise bedeutet im Ergebnis jedoch die vollständige Ausschaltung einer selbständigen Beweiswürdigung durch die Finanzstrafbehörde dann, wenn sich der Beschuldigte etwa verschweigt oder auf eine Verantwortung ohne konkretes Beweisanbot beschränkt. Erachtet man die Auffassung der bel. Beh. als richtig, so wäre in einem solchen Fall die Finanzstrafbehörde sogar dann zur Übernahme der von der Abgabenbehörde getroffenen Sachverhaltsfeststellungen berechtigt, wenn deren Beweiswürdigung mit manifesten und schwerwiegenden Fehlern belastet oder wenn die für ihre Sachverhaltsannahmen maßgeblichen Gründe überhaupt nicht feststellbar wären. Des weiteren ist im gegebenen Zusammenhang der (nach § 157 FinStrG für das Rechtsmittelverfahren sinngemäß anzuwendende) § 115 FinStrG in Betracht zu ziehen, demzufolge die Finanzstrafbehörde erster Instanz im Untersuchungsverfahren (insbesondere) den für die Erledigung der Strafsache maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen festzustellen hat. Der hier festgelegte Verfahrensgrundsatz ist mit einer den Beschuldigten treffenden Beweislast in der von der bel. Beh. gedachten Art schlechthin unvereinbar. Es ist nämlich ein offensichtlicher Widerspruch, einerseits eine amtswegige, d. h. eine Ermittlungspflicht anzunehmen, die auch die Erhebung der Behörde bekannter tauglicher Beweise in sich schließt, andererseits aber die Pflicht zur tatsächlichen Durchführung solcher Beweise von der Initiative des Beschuldigten abhängig zu machen. Auch aus dem Umstand, daß die Abgabenbehörde in gleicher Weise wie die Finanzstrafbehörde zur amtswegigen Sachverhaltsermittlung sowie zur Wahrung des Parteiengehörs verpflichtet ist, könnte nicht eine Befugnis der Finanzstrafbehörde abgeleitet werden, die sachverhaltsmäßigen Ergebnisse des Abgabenverfahrens ohne weiteres in das Finanzstrafverfahren zu übernehmen und diesem zugrundezulegen. Im Hinblick auf den dargestellten Widerspruch zwischen einem solchen Vorgehen und tragenden Grundsätzen des verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahrens könnte eine solche Befugnis vielmehr nur aus einer ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers abgeleitet werden, die aber nicht besteht.
Daß eine Befugnis der in Rede stehenden Art überhaupt nur einer (- nicht bestehenden, im Falle ihres Bestandes jedoch verfassungswidrigen -) ausdrücklichen Anordnung des Gesetzgebers entnommen werden könnte, ergibt sich daraus, daß der Grundsatz der verfassungskonformen Gesetzesauslegung es verbietet, jegliche andere Vorschrift des Finanzstrafgesetzes als implizite Aussage über eine Bindung an einen rechtskräftigen Abgabenbescheid in der von der bel. Beh. angenommenen Weise zu verstehen; dies gilt insbesondere in Ansehung des § 54 FinStrG (dem nunmehr § 55 FinStrG i. d. F. der FinStrG-Nov. 1975 entspricht) , wonach im verwaltungsbehördlichen Strafverfahren wegen Hinterziehung oder wegen fahrlässiger Verkürzung bestimmter Abgaben die mündliche Verhandlung erst durchgeführt werden darf, wenn das Ergebnis der rechtskräftigen endgültigen Abgabenfestsetzung für den Zeitraum vorliegt, den die strafbare Tat betrifft. Der {Europäische Menschenrechtskonvention Art 6, Art. 6 Abs. 2 MRK} besagt, daß bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld vermutet wird, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist. Diese sog. Unschuldsvermutung hat die Europäische Kommission für Menschenrechte in ihrer Entscheidung vom 4./5. Oktober 1974, Nr. 5523/72, dahin ausgelegt, daß "Article 6 (2) requires basically that court judges in fulfilling their duties should not start with the assumption that the accused sommitted the act with which he is charged." Der VfGH pflichtet dieser Ansicht bei, und hält sie auch für die Auslegung des FinStrG im hier gegebenen Zusammenhang für maßgeblich. Sie schließt es aus, die Frage nach der Verwirklichung (auch nur) des objektiven Tatbestandes durch den Beschuldigten im verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahren - wie es dem Standpunkt der in dieser Beschwerdesache bel. Beh. entspricht - (zur Gänze oder auch nur teilweise) mit einer bloßen Verweisung auf einen rechtskräftigen Abgabenbescheid zu beantworten und dem Beschuldigten die Last eines Gegenbeweises aufzuerlegen. Dem steht die vom VfGH in seinem Erk. Slg. 5021/1965 vertretene Auffassung nicht entgegen, daß der Vorbehalt der Republik Österreich zu {Europäische Menschenrechtskonvention Art 5, Art. 5 MRK} hinsichtlich der Verfahrensgesetze BGBl. 172/1950 bezüglich dieser Verfahren auch die Anwendung des Art. 6 ausschließt und dies in gleicher Weise für bestimmte, damals näher untersuchte Vorschriften des FinStrG gilt.
Denn eine solche Ausnahme wäre - wie ebenfalls aus dem angeführten Erk. hervorgeht - nur dann anzunehmen, wenn sich die im FinStrG angeordnete Maßnahme mit einer in den Verwaltungsverfahrensgesetzen vorgesehenen deckt. Ein vergleichbarer, in diesen Gesetzen vorgesehener Fall ist jedoch nicht gegeben; ihnen, insbesondere dem Verwaltungsstrafgesetz 1950, ist eine die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes durch den Beschuldigten im Hinblick auf eine außerstrafrechtliche Entscheidung präsumierende Rechtsregel fremde.
Der VfGH braucht sich hier auch nicht mit seinen auf die Bestimmung des § 5 Abs. 1 VStG 1950 bezughabenden Erk. Slg. 7210/1973 auseinanderzusetzen, zumal die von dieser Vorschrift in Ansehung der in ihr umschriebenen Ordnungsdelikte dem Beschuldigten auferlegte Beweislast ausschließlich die subjektive Tatseite betrifft.