G27/76 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Die Prostitution ist ein Lebenssachverhalt, der unter dem Gesichtspunkt der Sittlichkeitspolizei (Art. 15 i. V. m. mit Art. 118 Abs. 3 Z 8 B-VG) geregelt werden kann: Die B-VG-Novelle 1962, BGBl. 205, enthält im Katalog der gewährleisteten Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden den Tatbestand " Sittlichkeitspolizei" ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 Z 8 B-VG}) . Nach dem zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der B-VG-Novelle 1962 üblichen allgemeinen Sprachgebrauch zählte die Ordnung und Überwachung der Prostitution zur Sittlichkeitspolizei, soweit es darum geht, Gefahren abzuwehren, die der Sittlichkeit durch die Ausübung der Prostitution drohen. Die Sittlichkeitspolizei soll ein Benehmen von Menschen verhindern, das die herrschenden sittlichen Anschauungen der Gemeinschaft öffentlich grob verletzt (vgl. Pernthaler, Die Zuständigkeit zur Regelung für Angelegenheiten der Prostitution, ÖJZ 1974, 287 ff.) , soferne es sich nicht um die Wahrung des öffentlichen Anstandes ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 15, Art. 15 Abs. 2 B-VG}) handelt.
Der Sittlichkeit drohende Gefahren können zumindest von einigen Erscheinungsformen der Prostitution, z. B. vom sogenannten " Gassenstrich" ausgehen. Fielen nicht einige Erscheinungsformen der Prostitution unter den Begriff "Sittlichkeitspolizei" , so wäre der im {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 Z 8 B-VG} vorgesehene Tatbestand " Sittlichkeitspolizei" zum Zeitpunkt seiner Erlassung nahezu inhaltsleer gewesen. Für diese Überlegungen spricht auch, daß Angelegenheiten, die an sich auch noch der Sittlichkeitspolizei zugezählt werden könnten, in Wahrheit dem Tatbestand "Wahrung des öffentlichen Anstandes" zu unterstellen sind. {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 B-VG} führt den Tatbestand "Sittlichkeitspolizei" (Z. 8) neben jenem der "örtlichen Sicherheitspolizei" (Z. 3) an. Die beiden Tatbestände müssen sohin verschiedenen Inhalt haben. Daran hat die B- VG-Novelle 1974, BGBl. 444, nichts geändert, die u. a. durch eine Neufassung des Art. 15 Abs. 2 den Begriff der "örtlichen Sicherheitspolizei" näher als bisher, und zwar derart konkretisiert hat, daß darunter auch die Wahrung des öffentlichen Anstandes fällt.
Dadurch wurde aber nicht der Inhalt der Begriffe "Sicherheitspolizei " und "Sittlichkeitspolizei" geändert, sondern bestimmt, daß die " Wahrung des öffentlichen Anstandes" (die stets zur Sicherheitspolizei gehört hat) nicht dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 7 B-VG} zu unterstellen, sondern zur örtlichen Sicherheitspolizei zu zählen ist.
Es kann dem Verfassungsgesetzgeber des Jahres 1962 nicht zugemutet werden, daß er einen (nahezu) inhaltsleeren Tatbestand schaffen wollte. Vielmehr hat er ihm den oben dargestellten, sich aus dem üblichen Sprachgebrauch ergebenden Inhalt beigemessen.
Bei diesem eindeutigen Ergebnis können historische Untersuchungen ( etwa über § 5 des sogenannten Landstreichergesetzes, RGBl. 89/1885) unterbleiben.
Die Regelung der Prostitution, soweit sie der Abwehr von Gefahren dient, die der Sittlichkeit drohen, gehören sohin zum Tatbestand " Sittlichkeitspolizei" . Die damit im Zusammenhang stehenden behördlichen Aufgaben sind gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 Z 8 B-VG} der Gemeinde zur Besorgung im eigenen Wirkungsbereich gewährleistet.
Dies schließt nicht aus, daß die Prostitution unter den Gesichtspunkten anderer Verwaltungsmaterien gleichfalls zum Gegenstand einer Regelung gemacht werden kann.
Die VO der Stadtvertretung der Landeshauptstadt Bregenz vom 1. Juli 1975, betreffend das Verbot der Prostitution in Bregenz wird als gesetzwidrig aufgehoben.
Die VO des Gemeindevorstandes der Marktgemeinde Hard vom 11. November 1974 (bestätigt mit Beschluß der Gemeindevertretung der Marktgemeinde Hard vom 13. Dezember 1974) , betreffend das Verbot der Prostitution in Hard, sowie die VO der Stadtvertretung der Stadt Feldkirch vom 17. Oktober 1974, betreffend das Verbot der Prostitution in Feldkirch, waren nicht gesetzwidrig.
Der Inhalt der in Prüfung gezogenen Prostitutionsverordnungen (PrVn Hard und Feldkirch besteht im Verbot der Prostitution auf ( öffentlichen) Straßen und Plätzen, also ein Verbot des sogenannten " Gassenstriches" . Dieses Verbot konnte - wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt - unter dem Gesichtspunkt des Sachgebietes " Sittlichkeitspolizei" ausgesprochen werden. Diese beiden PrVn wurden sohin in einer Angelegenheit des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde erlassen. Hingegen verbietet die PrV Bregenz die Anbahnung und die Ausübung der gewerbsmäßigen Unzucht (Prostitution) für den Bereich der Landeshauptstadt Bregenz schlechthin. Die PrV Bregenz untersagt daher auch solche Formen der Prostitution, die der Öffentlichkeit gegenüber nicht in Erscheinung treten, die die Sittlichkeit (im oben dargestellten Sinn) also nicht bedrohen. Die PrV Bregenz regelt also zum Teil eine Angelegenheit, die weder eine solche der Sittlichkeitspolizei ist, noch sonst durch Art. 118 Abs. 2 und 3 B-VG der Gemeinde zur Besorgung im eigenen Wirkungsbereich gewährleistet ist. Sie ist deshalb gesetzwidrig.
Zu den PrVn Hard und Feldkirch: Art. 118 Abs. 6 B-VG (und der gleichlautende § 17 Abs. 1 Gemeindegesetz) ermächtigt die Gemeinden nur zur Erlassung solcher Verordnungen, die die Abwehr oder die Beseitigung von das örtliche Gemeinschaftsleben störenden Mißständen zum Zweck haben. Derartige das örtliche Gemeinschaftsleben störende Mißstände müssen zum Zeitpunkt der Erlassung der ortspolizeilichen VO entweder bereits vorliegen oder aber es muß der Eintritt solcher Mißstände ernstlich zu befürchten sein; außerdem muß die VO ein taugliches polizeiliches Mittel zur Beseitigung bereits bestehender oder zur Abwehr von mit Sicherheit zu erwartenden Mißständen und Gefahren bilden (vgl. Slg. 6556/1971 und 6938/1972) . Daraus ergibt sich, daß hier - anders als bei der Beurteilung, ob eine Angelegenheit gemäß Art. 118 Abs. 2 und 3 B-VG in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde fällt (vgl. Slg. 2409/1966, 5647/1967) - nicht auf die "abstrakte (Einheits) Gemeinde" abgestellt werden kann, sondern darauf, ob in der konkreten Gemeinde ein das Gemeinschaftsleben dieser Gemeinde störender Mißstand besteht oder zu erwarten ist. Insofern muß der Mißstand für die Gemeinde "spezifisch " sein. Daß ein gleicher Mißstand auch in anderen Gemeinden auftritt, bedeutet für sich allein noch nicht, daß damit das Verordnungsrecht der Gemeinde nicht begründet wäre oder erlöschen würde. Für eine derartige Auslegung bietet der Wortlaut des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 6 B-VG} keine Handhabe.
Aus den dem VfGH zu Slg. 7965 vom Bürgermeister der Gemeinde Hard und zu Slg. 7969 vom Bürgermeister der Stadt Feldkirch erstatteten Berichten ergibt sich, daß in diesen Gemeinden in den letzten Jahren der sogenannte "Gassenstrich" über Hand genommen hat. In diesen Berichten werden glaubhaft und eingehend die konkreten u. a. die öffentliche Sicherheit bedrohenden Mißstände dargestellt, die durch den sogenannten "Gassenstrich" entstanden sind. Ferner wird dargelegt, wieso dadurch das Gemeinschaftsleben der Gemeinden ganz wesentlich gestört wird. Der VfGH nimmt an, daß die PrVn taugliche Mittel zur Beseitigung dieser Mißstände sind.
Die in Prüfung gezogenen Verordnungen wurden vor dem Inkrafttreten des Vorarlberger Sittenpolizeigesetzes, LGBl. 6/1976 (SPG) , erlassen. Das SPG verbietet in § 4 Abs. 1 die Ausübung der gewerbsmäßigen Unzucht und das Anbieten hiezu, soweit nicht Ausnahmen infolge einer Bewilligung gemäß § 5 (Bordellbewilligung) zugelassen sind. {Sicherheitspolizeigesetz § 4, § 4 Abs. 2 SPG} untersagt, soweit nicht Ausnahmen auf Grund einer Bewilligung gemäß § 5 (Bordellbewilligung) zugelassen sind, die Gewährung oder Beschaffung von Gelegenheiten, insbesondere der Überlassung von Räumen zur Ausübung gewerbsmäßiger Unzucht oder zum Anbieten hiezu. Das SPG ist seinem § 20 Abs. 1 zufolge grundsätzlich am 10. Feber 1976 in Kraft getreten. Lediglich die in § 4 Abs. 1 und 2 enthaltene Verbote treten nach § 20 Abs. 2 grundsätzlich erst am 10. Feber 1978 in Kraft. {Sicherheitspolizeigesetz § 20, § 20 Abs. 3 SPG} sieht ein früheres Inkrafttreten auch dieser Verbote für einen Verwaltungsbezirk vor, soferne in diesem ein Bordellbetrieb aufgenommen wird. Dies ist jedoch bisher nicht geschehen. Sowohl aus dem Wortlaut des {Sicherheitspolizeigesetz § 20, § 20 SPG} als auch aus den hiezu vorliegenden Materialien des Vorarlberger Landtages (27. Beilage im Jahre 1975 zu den Sitzungsberichten des XXII. Vorarlberger Landtages) ergibt sich, daß diese gesetzliche Norm nicht darauf gerichtet ist, das Recht der Gemeinden, auf das Verbot der Prostitution bezughabende ortspolizeiliche Verordnungen zu erlassen, zu beschränken. Das bedeutet, daß derzeit durch das SPG die Prostitution lediglich insofern geregelt ist, als sie in Bordellen ausgeübt wird. Hingegen sind alle anderen Erscheinungsformen der Prostitution, insbesondere der von den in Prüfung gezogenen PrVn erfaßte "Gassenstrich" , derzeit durch das SPG keiner Regelung unterzogen. Die PrVn verstoßen sohin nicht gegen das SPG.
Die Bestimmungen über die gewerbsmäßige Unzucht des SPG, die bereits in Kraft stehen, regeln nur die Prostitution in Bordellen, haben einen anderen sachlichen und persönlichen Geltungsbereich als die PrVn, die den "Gassenstrich" verbieten. Die die PrVn einleitende Wendung "bis zur Erlassung einschlägiger gesetzlicher Bestimmungen wird verordnet" kann ungeachtet ihres Wortlauts dem offenkundigen Sinn zufolge nur dahin ausgelegt werden, daß damit das Außerkrafttreten der Verordnungen für den Zeitpunkt angeordnet wird, zu dem ein Gesetz in Kraft tritt, das denselben Gegenstand wie die VO regelt. Dies ist bisher nicht geschehen.
§ 17 Abs. 2 Vlbg. Gemeindegesetz, LGBl. 45/1965, wird als verfassungwidrig aufgehoben.
Nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 6 letzter Satz B-VG} dürfen ortspolizeiliche Verordnungen nicht gegen bestehende Gesetze und Verordnungen des Bundes und des Landes verstoßen. Auch Gesetze, die Regelungen aufheben, sind bestehende Gesetze und können daher eine Grenze für das Verordnungsrecht der Gemeinden bilden. Eine einfachgesetzliche Bestimmung jedoch, die allein schon deshalb, weil früher eine bundesrechtliche oder landesrechtliche Vorschrift die Materie geregelt hat, das ortspolizeiliche Verordnungsrecht auf jeden Fall ausschließt, zieht dem Gemeinde-Verordnungsgeber einen engeren Rahmen als Art. 118 Abs. 6 B-VG und wäre sohin verfassungwidrig. Dieser Vorwurf trifft auf § 17 Abs. 2 GemeindeG zu, auch wenn hier die Einschränkung enthalten ist, daß die Materie "wegen ihrer allgemeinen Erscheinung" früher gesetzlich geregelt war. Ob die Voraussetzungen für die Erlassung einer ortspolizeilichen Verordnung gegeben sind, ist dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 6 B-VG} zufolge nämlich nicht davon abhängig, welcher Lebenssachverhalt früher vorgelegen und wie er früher vom Gesetzgeber beurteilt worden ist; maßgeblich ist vielmehr der gegenwärtige Lebenssachverhalt und die gegenwärtige Rechtslage, die auch durch Gesetze, welche Regelungen aufheben, bestimmt wird.
Aus der (speziellen) Bestimmung des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 6 B-VG} und der gleichlautenden Bestimmung des § 17 Abs. 1 und 3 Vlbg. GemeindeG ergibt sich, daß die Gemeinde - ohne durch die (generelle) Bestimmung des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 18, Art. 18 Abs. 2 B-VG} beschränkt zu sein - das Recht hat, ortspolizeiliche Verordnungen nach freier Selbstbestimmung unter folgenden drei Voraussetzungen zu erlassen: 1. Die ortspolizeiliche Verordnung muß in einer Angelegenheit erlassen werden, deren Besorgung im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde nach Art. 118 Abs. 2 und 3 B-VG gewährleistet ist; 2. die Verordnung muß den Zweck verfolgen, das örtliche Gemeinschaftsleben störende Mißstände abzuwehren oder zu beseitigen und 3. die Verordnung darf nicht gegen bestehende Gesetze oder Verordnungen des Bundes und des Landes verstoßen.