B316/75 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Gegenstand des Berufungsverfahrens und damit Sache der Berufungsentscheidung i. S. des § 289 BAO war nur die Frage, ob die erste Instanz zu Recht ihre Unzuständigkeit ausgesprochen hat. Die Berufungsbehörde durfte daher nicht eine Sachentscheidung über das Stundungsansuchen des Bf., über das die erste Instanz noch nicht entschieden hat, treffen. Ebensowenig wie § 66 Abs. 4 AVG 1950 bietet {Bundesabgabenordnung § 289, § 289 BAO} eine Grundlage dafür, unter Übergehung der ersten Instanz aus Anlaß einer Berufung in der Berufungsentscheidung selbst über Anträge abzusprechen, die in der ersten Instanz unerledigt geblieben sind (vgl. z. B. VwGH Slg. 2066 A/1951, 2296 A/1951, 2402 A/1954, 26. Jänner 1972, Z 43/71, 17. November 1971, Z 2381/1971) . Daran ändert nichts die Bestimmung des {Bundesabgabenordnung § 279, § 279 Abs. 1 BAO} (wonach in Berufungsverfahren die Abgabenbehörden zweiter Instanz die Obliegenheiten und Befugnisse haben, die den Abgabenbehörden erster Instanz auferlegt und eingeräumt sind) , denn aus dieser Bestimmung kann nicht abgeleitet werden, daß die Abgabenbehörden zweiter Instanz im Berufungsverfahren befugt wären, in einer Angelegenheit eine Sachentscheidung zu treffen, die überhaupt nicht Gegenstand einer erstinstanzlichen Sachentscheidung gewesen ist (vgl. dazu auch VwGH 21. März 1972, Z 2123/71) . Die bel. Beh. hat dadurch, daß sie mit der angefochtenen Berufungsentscheidung über das Stundungsansuchen des Bf. eine abweichende Sachentscheidung getroffen hat, über eine Frage entschieden, die infolge der von der Unterinstanz wegen deren Unzuständigkeit ausgesprochenen Zurückweisung nicht Gegenstand der Entscheidung der Unterinstanz war. Die bel. Beh. hat dadurch dem Bf. für die von ihm begehrte Sachentscheidung eine Instanz genommen; sie hätte den erstinstanzlichen Zurückweisungsbescheid beheben müssen, um den Weg zu einer erstinstanzlichen Sachentscheidung freizumachen.
Aufhebung des bekämpften Bescheides wegen Verletzung des Rechtes auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.