B200/75 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Keine Bedenken gegen {Bundesabgabenordnung § 112, § 112 Abs. 3 BAO}.
Gemäß § 112 Abs. 3 BAO kann die Abgabenbehörde eine Ordnungsstrafe bis S 1.000,-- gegen Personen verhängen, die sich in schriftlichen Eingaben einer beleidigenden Schreibweise bedienen. Dieser Tatbestand ist wörtlich dem § 34 Abs. 3 AVG 1950 nachgebildet, so daß die Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zu dieser Bestimmung auch für die Auslegung des {Bundesabgabenordnung § 112, § 112 Abs. 3 BAO} herangezogen werden kann. So hat der VfGH dargelegt, daß die Regelung des § 34 AVG 1950 dazu bestimmt sei, Verletzungen des gebotenen Anstandes im Verkehr mit der Behörde zu ahnden, die sich also nicht gegen den Inhalt des Vorbringens, sondern gegen dessen Form wende, so daß ein Wahrheitsbeweis nach § 34 Abs. 3 AVG 1950 gar nicht in Frage komme, weil die Form des Vorbringens kein Gegenstand einer solchen Beweisführung sei (z. B. Slg. 2960/1956, 4043/1961) . Auch der VwGH hat ausgeführt, daß die Vorschriften des § 34 AVG 1950 die Aufgabe haben, die Wahrung des Anstandes im Verkehr mit Behörden zu gewährleisten und daß nicht die Kritik, sondern die Art ihres Vorbringens Gegenstand des Schutzes sei (VwGH Erk. vom 27. Jänner 1958, Z 783/1956) . Diese Rechtsauffassung ist der Beurteilung der angefochtenen Bescheide zugrunde zu legen.
Es ist denkmöglich, den Begriff der Beleidigung nicht nur als Herabwürdigung bestimmter Personen und Behörden zu verstehen, sondern auch auf die Kritik eines Verhaltens oder Zustandes auszudehnen.
Durch {Bundesabgabenordnung § 112, § 112 Abs. 3 BAO} wird nicht die Kritik an sich, sondern unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt die beleidigende Art ihres Vorbringens mit Ordnungsstrafe bedroht. Als beleidigend ist eine Schreibweise zu werten, wenn sie den gebotenen Anstand im Verkehr mit der Behörde verletzt. Was als Verletzung des gebotenen Anstandes gilt, kann in Anlehnung an das zu Art. VIII EGVG ergangene Erk. des VwGH Slg. 7308 A/1968 dahin umschrieben werden, daß ein Verhalten dann als Anstandsverletzung anzusehen ist, wenn es gegen jene Grundsätze der Schicklichkeit (der guten Sitten) verstößt, die jedermann zu beobachten hat, wenn er aus seinem Privatleben in die Öffentlichkeit tritt - wozu auch der Verkehr mit der Behörde gehört.
Wenn der Bf. davon ausgeht, daß die Frage, wann eine Anstandsverletzung vorliegt, nicht ohne Bedachtnahme auf die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse beantwortet werden kann, ist ihm zuzustimmen. Es haben sich aber auch und gerade in den differenzierten Verhältnissen einer pluralistischen Gesellschaftsordnung wie der gegenwärtigen gewisse Regeln des Anstandes herausgebildet, an denen im Einzelfall das menschliche Verhalten gemessen werden kann. Mit ähnlichen Fragen in dem engeren Bereich der Begriffe der Ehre und des Ansehens eines Berufsstandes hat sich der VfGH z. B. in Slg. 3290/1957, 4886/1964 und 7494/1975 befaßt.
Denkmögliche und nicht willkürliche Anwendung des {Bundesabgabenordnung § 112, § 112 Abs. 3 BAO}.
Der Bf. hat den angefochtenen Bescheid auch beim VwGH angefochten und dieser Gerichtshof hat die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Dies hindert aber den VfGH nicht, den bei ihm angefochtenen Bescheid im Rahmen des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 144, Art. 144 B-VG} selbständig zu prüfen (vgl. Slg. 7261/1974, 7748/1976) .