JudikaturVfGH

B1/75 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
24. Juni 1976

Keine Bedenken gegen § 4 Abs. 2 Kommunalstrukturverbesserungsgesetz 1975, LGBl. 1451-0, weil er - wenn auch nur für eine Übergangszeit - eine vom Art. 117 Abs. 1 B-VG abweichende Form der Gemeindeorganisation verfügt. Nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 B-VG} ist der Landesgesetzgeber, soweit nicht ausdrücklich eine Zuständigkeit des Bundes festgesetzt ist, berufen, das Gemeinderecht nach den Grundsätzen der Art. 116 ff. B-VG zu regeln. Es fällt insbesondere auch in die Zuständigkeit der Landesgesetzgebung, bestehende Gemeinden aufzulösen und neue Gemeinden zu schaffen. Denn, wie der VfGH bereits in seinem Erk. Slg. 6697/1972 ausgeführt hat, enthält das B-VG zwar eine Bestandgarantie der Gemeinde als Institution, es garantiert aber nicht der individuellen Gemeinde ein Recht auf ungestörte Existenz. Irgendeine Beschränkung des Landesgesetzgebers ergibt sich in dieser Beziehung aus den Bestimmungen der Art. 116 ff. B-VG nicht, insbesondere auch nicht aus den Bestimmungen über die Gemeindeorgane. Bestimmungen über die Funktionsdauer der Gemeindeorgane enthält das B-VG überhaupt nicht; auch diese wird daher durch den Landesgesetzgeber festgesetzt. Er kann daher für bestimmte Fälle aus sachlichen Gründen auch die normale Funktionsdauer vorzeitig beenden. Es ist nun offenkundig, daß alle zu Organwaltern eines bestimmten Rechtsträgers bestellten Personen mit dem Untergang dieses Rechtsträgers ihre Organfunktion verlieren ( vgl. Slg. 6697/1972) . Wenn dies der erste Satz des § 4 Abs. 1 KStrVG 1975 ausdrücklich ausspricht und für den Fall der noch nicht gegebenen Funktionsfähigkeit der neu geschaffenen Gemeinden Vorsorge trifft, verstößt er gegen keine Bestimmung der Bundesverfassung. Nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 117, Art. 117 Abs. 1 B-VG} sind vom Landesgesetzgeber jedenfalls die dort angeführten Gemeindeorgane vorzusehen. Es wird ihm dadurch nicht verwehrt, für den Fall der Funktionsfähigkeit oder des Nochnichtvorhandenseins dieser Organe ein anderes Organ - einen Regierungskommissär - vorzusehen.

§ 20 Abs. 1 Gemeindeordnung 1973 gilt gemäß § 99 GemeindeO 1973 als Landesverfassungsbestimmung. Die GemeindeO 1973 enthält aber in den §§ 6 bis 11 und 13 Vorschriften über Gemeindegebietsänderungen, darunter auch über die Neubildung und Aufteilung von Gemeinden durch Landesgesetz (§ 10) ; diese Bestimmungen gelten nach § 99 GemeindeO 1973 nicht als Landesverfassungsbestimmungen. Überdies enthält § 94 GemeindeO 1973 Vorschriften über die Auflösung des Gemeinderates und die Bestellung eines Regierungskommissärs durch die Landesregierung in Ausübung des Aufsichtsrechtes des Landes, die im § 99 GemeindeO 1973 gleichfalls nicht zu Landesverfassungsbestimmungen erhoben werden. Daraus ergibt sich, daß die im § 20 Abs. 1 GemeindeO 1973 erfolgte Festsetzung der Funktionsperiode des Gemeinderates nur für den Normalfall gilt, nicht aber auch für den Fall der Auflösung von Gemeinden, und daß der Landesgesetzgeber daher durch diese Landesverfassungsbestimmung nicht gehindert ist, durch einfaches Landesgesetz (das KStrVG 1975) die Auflösung von Gemeinden zu beschließen.

Die Bundesverfassung verwehrt es nun dem Gesetzgeber nicht, ein Gesetz mit rückwirkender Kraft auszustatten, soweit diese Rückwirkung mit dem Gleichheitsgebot vereinbar ist (vgl. z. B. Slg. 3665/1959, 5051/1965 und 6182/1970) . Gegen die rückwirkende Erlassung des KStrVG 1975 bestehen keinesfalls verfassungsrechtliche Bedenken.

Die Vereinigung der Gemeinden Dreistetten und Markt Piesting zur neuen Gemeinde Markt Piesting wurde durch § 7 KStrVG 1975 mit Wirkung vom 1. Jänner 1975 verfügt. Es ist nicht unsachlich, wenn der Landesgesetzgeber für alle in § 2 KStrVG 1975 vorgesehenen Gemeindevereinigungen den gleichen Zeitpunkt und als solchen den Beginn eines Kalenderjahres gewählt hat. Diese Regelung wird nicht dadurch unsachlich, wenn in einer der durch sie betroffenen Gemeinden die normale Funktionsperiode des Gemeinderates relativ kurze Zeit nach diesem Zeitpunkt abgelaufen wäre.

Strukturänderungsmaßnahmen jeder Art sind von einer Vielfalt von Umständen abhängig. So gut wie niemals wird eine Situation so beschaffen sein, daß ausnahmslos alle in Ansehung einer bestimmten Maßnahme erhebliche Umstände für diese Maßnahme sprechen, immer werden im Einzelfall auch Umstände vorliegen, an denen gemessen sie nicht erforderlich, ja vielleicht sogar unzweckmäßig ist. Auch jede Änderung der Gemeindestruktur bewirkt deshalb - und zwar besonders für die unmittelbar davon Betroffenen - nicht nur Vorteile, es wird sich vielmehr manches überhaupt nicht und manches vielleicht sogar - oft freilich nur vorübergehend - zum Nachteil ändern. Das ist unvermeidlich und macht deshalb eine solche Maßnahme an sich noch nicht unsachlich (vgl. Erk. Slg. 6697/1972) . Die vom Bf. vorgebrachten Umstände betreffen nur Fragen der Zweckmäßigkeit der verfügten Gemeindevereinigung, die zu beurteilen dem Landesgesetzgeber im Rahmen der ihm zustehenden rechtspolitischen Erwägungen obliegt. Eine Gleichheitswidrigkeit der gesetzlichen Regelung tun sie nicht dar.

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