B357/74 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Der zweite Satz des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 144, Art. 144 Abs. 1 B-VG} bestimmt, daß die Beschwerde (an den VfGH) , sofern bundesgesetzlich nicht anderes bestimmt ist, erst nach Erschöpfung des Instanzenzuges erhoben werden kann. § 82 Abs. 1 VerfGG 1953 trifft hiezu die nähere Anordnung, daß die Beschwerde wegen Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte nur nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges innerhalb der Frist von 6 Wochen nach Zustellung des in letzter Instanz ergangenen administrativen Bescheides erhoben werden kann.
Der einfache Gesetzgeber ist also vom Regelfall ausgegangen, daß der Charakter eines Bescheides als ein letztinstanzlicher bereits im Zeitpunkt seiner Erlassung (durch Zustellung) gegeben sei. Ein am Wortlaut haftendes Verständnis des § 82 Abs. 1 VerfGG 1953 würde somit zum Ergebnis führen, daß gegen einen (ursprünglich noch nicht rechtskräftigen) Bescheid, der ausnahmsweise erst nach seiner Erlassung infolge einer vom Gesetzgeber verfügten Kürzung des Instanzenzuges zu einem letztinstanzlichen wird, eine VfGH-Beschwerde überhaupt nicht erhoben werden kann. Ein solcher Gesetzesinhalt erschiene als verfassungswidrig, da der einfache Gesetzgeber den von ihm nur gegen letztinstanzliche Bescheide prozessual zugelassenen verfassungsgesetzlich vorgesehenen Rechtsschutz durch eine unmittelbar, also ohne das Dazwischentreten eines weiteren Rechtsbehelfes zulässige Anrufung des VfGH verweigerte. Der Grundsatz der verfassungskonformen Gesetzesauslegung gebietet es, ein solches Auslegungsergebnis zu vermeiden. Die bezogene Gesetzesstelle ist daher, da dies ihr Wortlaut nicht ausschließt, unter Bedachtnahme auf den Zweck der Regelung so zu verstehen, daß sie auch den erwähnten Ausnahmefall umfaßt, und zwar so, daß die Frist zur Beschwerdeerhebung ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Bescheid von Gesetzes wegen zu einem letztinstanzlichen geworden ist.
Im Beschluß Slg. 4536/1963 hat der VfGH im Hinblick auf {Zivilprozeßordnung § 146, § 146 Abs. 1 ZPO} in Verbindung mit § 35 VerfGG 1953 den (auch in der folgenden Rechtsprechung - siehe den Beschluß Slg. 6229/1970 - aufrechterhaltenen) Standpunkt vertreten, daß die Unrichtigkeit einer Rechtsmittelbelehrung für die Partei ein unvorhergesehenes Ereignis darstelle und daß das Vertrauen auf die Richtigkeit der bekanntgegebenen Rechtsmittelbelehrung der Partei nicht als Verschulden angelastet werden könne. Dieser Standpunkt trifft grundsätzlich auch dann zu, wenn die Partei entsprechend der ursprünglich zutreffenden Rechtsmittelbelehrung das vorgesehene Rechtsmittel ergreift, der von ihr bekämpfte Bescheid aber während des anhängigen Rechtsmittelverfahrens infolge einer Änderung der Gesetzeslage zu einem letztinstanzlichen wird. Kürzt der Gesetzgeber den Instanzenzug derart, daß er eine Übergangsregelung für anhängige Verfahren nicht vorsieht, so bewirkt er dadurch, daß richtig erteilte Rechtsmittelbelehrungen unzutreffend werden. Ein solches Vorgehen des Gesetzgebers ist für die Partei, die das Rechtsmittel eingebracht hat, ein unvorhergesehenes Ereignis und es kann ihr nicht als Verschulden angelastet werden, wenn sie weiterhin auf die Richtigkeit der unzutreffend gewordenen Rechtsmittelbelehrung vertraut und aus diesem Grund die rechtzeitige Erhebung einer Beschwerde an den VfGH unterläßt. Erhält die Partei, die fristgerecht Berufung ergriffen hat, erst durch den ihr Rechtsmittel als unzulässig zurückweisenden Bescheid Kenntnis von der geänderten Gesetzeslage, so ist ihr, wenn die übrigen Voraussetzungen gegeben sind, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Beschwerdefrist zu bewilligen.