G35/73 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
{Bundesabgabenordnung § 212, § 212 Abs. 2 BAO}, BGBl. 194/1961, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Der VfGH hat zwar wiederholt ausgeführt, der Gleichheitsgrundsatz verbiete dem Gesetzgeber nicht von einem einmal gewählten Ordnungssystem abzuweichen (z. B. Slg. 5481/1967 und aus jüngerer Zeit Slg. 6471/1971 sowie die dort angeführte Vorjudikatur) . Der Gleichheitsgrundsatz gebietet jedoch, daß das Gesetz innerhalb eines und desselben Rechtsinstitutes nicht Differenzierungen enthält, die nicht aus entsprechenden Unterschieden im Tatsachenbereich gerechtfertigt werden können (vgl. z. B. Slg. 7059/1973 und die dort angeführte Vorjudikatur) . Es ist also zwar nicht das Abweichen von einem Ordnungssystem an sich gleichheitswidrig, es muß aber die abweichende Regelung, am Maßstab des Gleichheitssatzes gemessen, in sich sachlich gerechtfertigt sein.
Im § 212 Abs. 2 BAO geht der Gesetzgeber von dem Begriff der "aushaftenden Abgabenschuldigkeiten" aus. Dazu gehören nicht nur fällige und vollstreckbare Rückstände, sondern alle jene Abgabenschuldigkeiten, deren Entrichtung hinausgeschoben wurde und die ohne diese Maßnahme, wenn sie es nicht bereits sind, fällig und vollstreckbar geworden wären (vgl. VwGH Slg. 3380 F/1965 und Erk. vom 30. Jänner 1974, Z 426/72) . Diese aushaftenden Abgabenschuldigkeiten, sog. "Abgabenzahlungsschulden" (vgl. VwGH Slg. 4110 F/1970) , sind Gegenstand von Stundungszinsen. Die Abgabenzahlungsschuld leitet sich von einer Abgabenschuld her. Es ist sachlich begründet und auch nicht anders möglich, bei Bewilligung einer Zahlungserleichterung (Stundung oder Ratenzahlungsbewilligung von der im Zeitpunkt der Bewilligung bestehenden Abgabenzahlungsschuld auszugehen. Es ist auch sachlich gerechtfertigt, im Falle einer nachträglichen Herabsetzung der Abgabenschuld die Stundungszinsen an die herabgesetzte Abgabenschuld anzupassen. Der dritte Satz im {Bundesabgabenordnung § 212, § 212 Abs. 2 BAO} bewirkt nun im Falle einer solchen nachträglichen Herabsetzung der Abgabenschuld eine Anpassung der Stundungszinsen an die Höhe der herabgesetzten Abgabenschuld, nicht aber an den für eine aushaftende Abgabenschuld in dieser Höhe im ersten Satz dieser Gesetzesstelle normierten Zinssatz. Diese Auswirkung liegt darin begründet, daß das Gesetz nicht eine Neuberechnung der Stundungszinsen für die herabgesetzte Abgabenschuld, sondern eine Berechnung der auf den Minderungsbetrag entfallenden Stundungszinsen vorsieht. Die Gesetzesmaterialien geben keine Auskunft über die Motive dieser Regelung. Wie der VwGH in seinem Erk. Slg. 2491 F/1961 (ebenso in den Erk. vom 8. Mai 1962, Z. 223/60 und vom 30. Jänner 1974, Z 426/70) ausgeführt hat, ist das Institut der Stundungszinsen rein wirtschaftlich zu betrachten. " Es stellt nicht eine Strafe für die böswillige Säumnis von Steuerzahlern dar, sondern ist ein wirtschaftliches Äquivalent für den Zinsenverlust, den der Fiskus dadurch erleidet, daß er die geschuldete Steuerleistung nicht bereits am Tage ihrer Fälligkeit erhalten hat. Ist auch doch sonst im Wirtschaftsleben der Schuldner gehalten, bei nichtpünktlicher Zahlung der Schuld Verzugszinsen zu leisten (vgl. {Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 1333, § 1333 ABGB}, {Handelsgesetzbuch § 353, § 353 HGB}) ." Unter Zugrundelegung dieser Auffassung, der der VfGH beipflichtet, ist es sachlich nicht gerechtfertigt, für den Fall einer nachträglichen Herabsetzung der Abgabenschuld nur die Bemessungsgrundlage, nicht aber den Zinssatz der herabgesetzten Abgabenschuld anzupassen.