JudikaturVfGH

G45/72 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
10. März 1973

§ 60 Abs. A des Burgenländischen Landesgesetzes vom 25. April 1924, LGBl. 27, betreffend die Geschäftsordnung des Bgld. Landtages, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

§ 60 Abs. A der Geschäftsordnung des Bgld. Landtages gilt heute noch in seiner ursprünglichen Fassung, die Geschäftsordnung steht auf der Stufe eines Landesgesetzes.

Gegenstand der Regelung des § 60 Abs. A der Geschäftsordnung ist die Willensbildung des Landtages. Es ist deshalb der Bundesregierung darin beizupflichten, daß eine Regelung dieses Inhaltes verfassungsrechtlich nicht anders zu beurteilen ist als die Regelung des Anwesenheitsquorums und der zum Zustandekommen eines Beschlusses erforderlichen Mehrheit im Landtag. Hiezu aber hat der VfGH in seinem Erk. Slg. 6783/1972 ausgesprochen, daß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 97, Art. 97 Abs. 1 B-VG} "die materielle Regelung der Beschlußerfordernisse für einen Gesetzesbeschluß des Landtages dem Landesverfassungsgesetzgeber vorbehält" . Selbst dann, wenn eine dem § 60 Abs. A der Geschäftsordnung des Bgld. Landtages entsprechende Regelung auf Grund des B-VG an sich zulässig ist, kann sie demnach nur durch Landesverfassungsgesetz getroffen werden. Die in Rede stehende Bestimmung steht auf der Stufe eines einfachen Landesgesetzes, sie ist allein schon deshalb verfassungswidrig.

Der VfGH ist der Meinung, daß bei der Entscheidung darüber, ob eine Regelung gegen ein in der Bundesverfassung verankertes Grundprinzip verstößt, nicht allein abstrakt theoretische Überlegungen entscheidend sein können, sondern daß vielmehr jenes Verständnis dieses Grundprinzips von maßgeblicher Bedeutung ist, das sich der Verfassungsgeber zu eigen gemacht hat. Dies gilt auch für die Grundsätze der Repräsentation und des Verhältniswahlrechtes. Es ist daher zu untersuchen, ob der Verfassungsgesetzgeber in der Regelung, daß der Vorsitzende eines allgemeinen Vertretungskörpers mit Ausnahme von Wahlen niemals mitstimmt, einen Verstoß gegen diese Prinzipien - so wie er sie verstand - gesehen hat. Die geschichtliche Entwicklung zeigt, daß dies nicht der Fall war.

Die Anordnung, daß der Vorsitzende im Vertretungskörper nicht mitstimmt, findet sich in der österreichischen Rechtsordnung schon im § 44 der dem Abgeordnetenhaus am 29. April 1861 von der Regierung vorgelegten sogenannten "oktroyierten" Geschäftsordnung (Neisser- Neisser, Die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, 1909, S. 115) . In § 56 der autonomen Geschäftsordnung vom 11. Juni 1861 (stenografische Berichte über die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses in der Session vom 29. April 1861 bis 18. Dezember 1862, S. 262) wie auch in § 64 der autonomen Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses vom 2. März 1875 (333 der Beilagen zu den stenografischen Protokollen des Abgeordnetenhauses, VIII. Session) war dann festgelegt, daß der Vorsitzende mit Ausnahme von Wahlen niemals mitstimmt. In der (konstituierenden) Sitzung der Nationalversammlung der deutsch sprachigen Abgeordneten vom 21. Oktober 1918 wurde beschlossen "bis zur Ausarbeitung einer besonderen Geschäftsordnung die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses sinngemäß" anzuwenden, also auch deren § 64. In den Sitzungen der Provisorischen Nationalversammlung vom 22. und vom 27. November 1918 wurden einige Änderungen dieser Geschäftsordnung beschlossen, die aber nicht den § 64 betrafen. Die Provisorische Nationalversammlung beschloß dann am 6. Feber 1919 ein Gesetz über die Geschäftsordnung der Konstituierenden Nationalversammlung und Änderungen der autonomen Geschäftsordnung (Text: Provisorische Nationalversammlung, Beilage 197) , die jedoch nicht das Stimmrecht des Präsidenten betrafen; überdies kamen sie niemals zur Anwendung, obwohl das Gesetz unter StGBl. 101/1919, kundgemacht worden war. Denn die Konstituierende Nationalversammlung beschloß schon in ihrer zweiten Sitzung vom 5. März 1919 ein Gesetz über die Geschäftsordnung (2 der Beilagen bzw. StGBl. 182/1919) sowie eine Änderung der autonomen Geschäftsordnung; diese deckten sich im allgemeinen mit den Beschlüssen der Provisorischen Nationalversammlung vom 6. Feber 1919, sie betrafen beide nicht die Frage des Stimmrechtes des Vorsitzenden im Hause. Die Regelung dieser Frage wurde dann unverändert in die autonome Geschäftsordnung des Nationalrates vom 19. November 1920 (§ 60 Abs. A) übernommen. Das Geschäftsordnungsgesetz vom gleichen Tage, BGBl. 10/1920, enthielt dazu wieder keine Bestimmung. Das Bundesgesetz vom 6. Juli 1961, BGBl. 178/1961, über die Geschäftsordnung des Nationalrates hat die Anordnung, daß der Vorsitzende mit Ausnahme von Wahlen niemals mitstimmt, im § 66 Abs. 1 übernommen.

Diese geschichtliche Entwicklung zeigt, daß die Konstituierende Nationalversammlung - also die verfassungsgebende Gewalt - in dieser Regelung keinen Widerspruch zu den damals schon geltenden Prinzipien der Repräsentation und des Verhältniswahlrechtes erblickt hat. Sie hat sie nicht nur selbst - insbesondere auch bei der Beschlußfassung über das B-VG 1920 - dauernd gehandhabt; auch der Nationalrat hat in der Folge - bis heute - diese Bestimmung bei der Beschlußfassung über alle Gesetze (auch Bundesverfassungsgesetze und damit in seiner Eigenschaft als Bundesverfassungsgesetzgeberö) angewendet. Obwohl die Ereignisse des 4. März 1933 in einer nur allzu deutlichen Weise gezeigt haben, daß gerade diese Bestimmung unter bestimmten Umständen bei der parlamentarischen Mehrheitsbildung zu Schwierigkeiten führt (alle drei Präsidenten hatten ihr Amt zurückgelegt, um - weil es auf ihre Stimme ankam - mitstimmen zu können) , hat der Nationalrat auch in der 2. Republik an dieser Bestimmung festgehalten und sie auch als Verfassungsgesetzgeber gehandhabt. Hinter dieser Bestimmung steht offenbar die Auffassung, daß der Vorsitzende im Hause (obwohl schon seit 1867 ein vom Volk - seit 1919 nach dem Prinzip des Verhältniswahlrechts - gewählter Abgeordneter) als "pouvoir neutre" die Verhandlungen des Hauses führen soll. Es wurde ihm eben eine Sonderaufgabe zugedacht; alle Parteien haben auch diese Funktion stets entsprechend dem Ausmaß ihrer Vertretung im Hause für einen ihrer Abgeordneten in Anspruch genommen und den "Verlust" seiner Stimme in Kauf genommen.

Der VfGH kann aus diesen - die Sonderstellung des Vorsitzenden berücksichtigenden und deshalb den allgemeinen Grundgedanken des Erk. Slg. 6106/1969 keineswegs widersprechenden - Erwägungen nicht finden, daß der Ausschluß des Vorsitzenden eines Vertretungskörpers von der Teilnahme an den Abstimmungen an sich dem B-VG zuwiderlaufen würde.

Der Verfassungsgesetzgeber hat mit Art. I des 2. Verfassungs- Überleitungsgesetzes 1945 die Geschäftsordnungen der gesetzgebenden Vertretungskörper wieder in Kraft gesetzt, eine ausdrückliche Aussage über ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten formalen Normentype jedoch nicht getroffen. Der VfGH hat in seinem Erk. Slg. 6783/1972 dargelegt, daß es sich bei dieser Anordnung des Verfassungsgesetzgebers "nur darum gehandelt" hat, "die früheren Bestimmungen wieder in Kraft zu setzen, um ein Funktionieren der Gesetzgebungsorgane zu ermöglichen, nicht aber um eine Veränderung des Ranges der wieder in Kraft gesetzten Bestimmungen" . Es besteht kein Grund, von dieser Auffassung abzugehen.

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