JudikaturVfGH

G11/71 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
19. Dezember 1972

§ 66 Abs. 2 und {Zivilprozeßordnung § 67, § 67 ZPO}, RGBl. 113/1895 (Fassung StGBl. 188/1945) , sowie {Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 16, § 16 Abs. 2 Rechtsanwaltsordnung}, RGBl. 96/1868 (Fassung StGBl. 95/1919) , werden als verfassungswidrig aufgehoben.

a) Die Abs. 3 bis 6 der Z 1 des Erlasses des BM für Justiz vom 17. Jänner 1956 i. d. F. des Erlasses vom 13. Feber 1956 zum Bundesgesetz über Änderungen des zivilgerichtlichen Verfahrens, BGBl. 282/1955; Bestellung des Armenvertreters, Änderung der Wertgrenzen, Vereinheitlichung der Rechtsmittelfristen (Z. 10.175-2/56 und 10.514-2/56) , Justizamtsblatt 3, b) der zweite und dritte Satz des § 193 Abs. 5 der Verordnung des BM für Justiz, womit die Geschäftsordnung für die Gerichte I. und II. Instanz (Geo.) teilweise geändert und neu verlautbart wird, BGBl. 264/1951, c) die §§ 40 bis 50 der Geschäftsordnung der Rechtsanwaltskammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland (bis zum Beschluß der Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer vom 11. Juni 1970, genehmigt vom BM für Justiz mit Erlaß vom 4. Dezember 1970, Z 11.958-2/70, kundgemacht im Österreichischen Anwaltsblatt 3/1971: §§ 43 bis 49; sodann bis zum Beschluß der Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer vom 14. Juni 1972, genehmigt vom BM für Justiz mit Erlaß vom 14. September 1972, Z 17.544-4 b/72, kundgemacht im Österreichischen Anwaltsblatt 11/1972: §§ 45 bis 51) werden als gesetzwidrig aufgehoben.

Im § 66 Abs. 2 ZPO liegt der gesetzliche Auftrag an den Ausschuß der Rechtsanwaltskammer, unter den Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 ZPO einen Armenvertreter zu bestellen. Dieser Auftrag ist im § 66 Abs. 2 ZPO nicht näher determiniert. Die Argumentation der Bundesregierung ist nur insoweit zutreffend, als dem Gesetzgeber nicht vorgeschrieben werden kann, gerade in der ZPO die entsprechende Regelung zu treffen, er muß aber überhaupt irgendeine Regelung treffen, die dem Art. 18 B-VG entspricht. Das ist im vorliegenden Falle, obwohl die Regelung schon seit Jahrzehnten besteht, nicht geschehen. {Zivilprozeßordnung § 66, § 66 Abs. 2 ZPO} widerspricht daher dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 18, Art. 18 B-VG}. Die gleichen Erwägungen gelten auch für {Zivilprozeßordnung § 67, § 67 ZPO}. Dagegen wird {Zivilprozeßordnung § 66, § 66 Abs. 1 ZPO} von diesen Überlegungen nicht berührt.

Die Bestellung zum Armenvertreter gemäß {Zivilprozeßordnung § 66, § 66 Abs. 2 ZPO} richtet sich an den zur Armenvertretung berufenen Rechtsanwalt und begründet für diesen die Verpflichtung zum Tätigwerden. Sie greift daher in die Rechte des Rechtsanwaltes ein, und sie geht vom Ausschuß der Rechtsanwaltskammer und daher von einer Verwaltungsbehörde aus. Sie ist als Bescheid einer Verwaltungsbehörde anzusehen.

Die Auslegung der Bundesregierung, daß § 66 ZPO zwei verschiedene Akte vorsieht, nämlich die Beigabe eines Rechtsanwaltes durch das Gericht einerseits und die Bestimmung der Person des Rechtsanwaltes ("des Rechtsanwaltes selbst") durch den Ausschuß der Rechtsanwaltskammer anderseits, ist jedenfalls möglich. So gesehen ergibt sich kein Widerspruch der gesetzlichen Regelung des {Zivilprozeßordnung § 66, § 66 ZPO} gegen den Trennungsgrundsatz des Art. 94 B-VG. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß ein einheitlicher Antrag vorliegt, weil die Entscheidungen über diesen einheitlichen Antrag verschiedene Themen betreffen (Beigabe eines Rechtsanwaltes einerseits und Bestimmung der Person des Rechtsanwaltes anderseits) . Diesem Ergebnis steht auch nicht entgegen, daß Art. XXXIII EGZPO bestimmt, daß ein Anwalt vom Gericht enthoben werden kann. Denn hier handelt es sich nicht um die Bestellung des Armenvertreters, sondern um seine Enthebung aus einem bestimmten Grund, also um eine völlig andere Angelegenheit, die im Hinblick auf {Bundes-Verfassungsgesetz Art 94, Art. 94 B-VG} selbständig zu beurteilen ist.

Aus der ZPO ergibt sich, daß in anderen als in den in §§ 70 und 71 ZPO geregelten Fällen die Tätigkeit des Armenvertreters gegenüber der armen Partei unentgeltlich zu erfolgen hat.

{Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 16, § 16 Abs. 2 RAO} hat den Inhalt, daß der Rechtsanwalt eine als Armenvertreter entfaltete Tätigkeit unentgeltlich zu besorgen hat; nur in den Fällen der §§ 70 und 71 ZPO hat er einen Anspruch auf Entgelt. Es besteht auch keine gesetzliche Regelung, die einen Entgeltsanspruch des Rechtsanwaltes gegenüber der Rechtsanwaltskammer für jene Fälle der Armenvertretung begründen würde, in denen der Rechtsanwalt kein Entgelt nach den angeführten Bestimmungen der ZPO erhält. Auch das Bundesgesetz BGBl. 191/1969 enthält keine solche Regelung.

Der VfGH ist der Meinung, daß eine Regelung, durch die ein Rechtsanwalt verpflichtet wird, eine anwaltliche Leistung unentgeltlich zu erbringen, sofern diese nicht unbedeutend ist, eine ungleiche Behandlung des Rechtsanwaltes gegenüber anderen Berufstätigen darstellt, die sachlich nicht zu rechtfertigen ist. Die Rechtsanwälte werden durch eine solche Regelung gegenüber allen anderen Berufstätigen schlechtergestellt, weil diese nur in gewissen Notfällen oder im Rahmen der alle Berufsgruppen treffenden Pflichten unentgeltliche Leistungen für die Allgemeinheit zu erbringen haben.

Für eine solche Schlechterstellung ist im Verfahren keine sachliche Rechtfertigung hervorgekommen. Die Bundesregierung hat allerdings darauf verwiesen, daß nach ihrer Meinung die beruflichen Verhältnisse der Rechtsanwälte anders liegen als bei anderen Berufstätigen, weil der Rechtsanwalt "ein Organ der Rechtspflege" sei und ihm die Rechtsordnung auf dem Gebiete der Rechtsberatung und Rechtsvertretung eine Monopolstellung einräume, die auch erhebliche wirtschaftliche Vorteile mit sich bringe. Es kann aber dahingestellt bleiben, ob diese Behauptung zutrifft, weil sie auch dann, wenn sie zuträfe, die Verpflichtung zur unentgeltlichen Armenvertretung schon deshalb nicht zu rechtfertigen vermag, weil es auch in anderen Berufen rechtliche Monopolstellungen gleicher Art gibt, ohne daß mit ihnen eine Verpflichtung zur Erbringung unentgeltlicher Leistungen verbunden ist (z. B. im Apothekenrecht; auch die Ausübung der Heilkunde ist den Ärzten vorbehalten) . Der Hinweis der Bundesregierung auf die Fälle der Betriebspflicht, die mit gewissen Berufen verbunden ist, geht aber schon deshalb fehl, weil mit der Betriebspflicht nicht die Pflicht zur Erbringung unentgeltlicher Leistungen verbunden ist. Die Regelung der §§ 66 Abs. 2 und 67 ZPO und des {Rechtsanwaltsprüfungsgesetz § 16, § 16 Abs. 2 RAO} widersprechen also wegen der in ihnen enthaltenen Verpflichtung des zum Armenvertreter bestellten Rechtsanwaltes zur Erbringung unentgeltlicher Leistungen im oben beschriebenen Umfang dem Gleichheitsgebot.

Die Regelung der §§ 43 bis 49 der Geschäftsordnung der Rechtsanwaltskammer für Wien, Niederösterreich und das Burgenland, die als Bestimmungen einer Verordnung eines Selbstverwaltungskörpers zu qualifizieren sind, bezieht sich nicht nur auf die Geschäftsbehandlung, sondern hat auch Rechtswirkungen auf den Rechtsanwalt, der zum Armenanwalt bestellt wird. Sie ist daher durch § 27 Abs. 1 lit. a RAO nicht gedeckt. Nach Aufhebung der §§ 66 Abs. 2 und 67 ZPO mangelt es überhaupt an jeder gesetzlichen Grundlage für eine solche Regelung.

Da die Beigabe eines Armenanwaltes nach {Zivilprozeßordnung § 66, § 66 Abs. 1 ZPO} dem Prozeßgericht I. Instanz, also einem Gericht, nicht etwa einem Richter als Justizverwaltungsorgan obliegt, hat dieses die in Prüfung gezogenen Erlaßstellen (Abs. 3 bis 6 der Z 1 des Erlasses JABl. 3/1956 betreffend die Bestellung des Armenvertreters) anzuwenden.

Die in Prüfung gezogenen Erlaßstellen richten sich somit nicht bloß an dem BM für Justiz unterstellte Verwaltungsbehörde. Es handelt sich bei diesem Erlaß sohin um eine Rechtsverordnung.

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