JudikaturVfGH

G12/72 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
30. Juni 1972

In {Bundes-Verfassungsgesetz Art 97, Art. 97 Abs. 1 B-VG} liegt die Anordnung, daß die wesentlichen Voraussetzungen, unter denen ein Gesetzesbeschluß des Landtages zustande kommt, in der Landesverfassung selbst zu regeln sind, daß also die Landesverfassung die materielle Regelung der Beschlußerfordernisse für einen Gesetzesbeschluß des Landtages (Anwesenheitsquorum und erforderliche Mehrheit) zu enthalten hat und sich nicht auf eine Delegierung beschränken darf. Dafür spricht vor allem auch, daß der Bundesverfassungsgesetzgeber in den Vorschriften für Volksvertretungen über Anwesenheitsquorum und erforderliche Mehrheit keine bloßen Ordnungsvorschriften sah, sondern es für notwendig fand, dort, wo er selbst eine Regelung der Beschlußerfordernisse traf, auch das Anwesenheitsquorum und die erforderliche Mehrheit zu regeln; so in Art. 31 und {Bundes-Verfassungsgesetz Art 44, Art. 44 B-VG} für den Nationalrat, in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 37, Art. 37 B-VG} für den Bundesrat, in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 99, Art. 99 B-VG} für den Landtag als Landesverfassungsgesetzgeber und in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 117, Art. 117 Abs. 3 B-VG} für den Gemeinderat. Dem Einwand der Steiermärkischen Landesregierung, daß in Art. 20 Abs. 2 L-VG 1960 für die Beschlußfassung über die Geschäftsordnung des Landtages die gleichen Beschlußerfordernisse festgesetzt sind wie für Landesverfassungsgesetze, ist entgegenzuhalten, daß für Gesetzesbeschlüsse des Landtages von Verfassungs wegen noch weitere Vorschriften maßgebend sind, die für einfache Landtagsbeschlüsse, auch wenn sie mit erhöhtem Anwesenheitsquorum und mit qualifizierter Mehrheit gefaßt werden, nicht gelten; es genügt, in diesem Zusammenhang auf die Vorschriften über die Beurkundung und die Gegenzeichnung, über die Kundmachung und über das Einspruchsrecht der Bundesregierung nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 98, Art. 98 B-VG} hinzuweisen. Der VfGH verkennt nicht die Bedeutung des föderalistischen Prinzips und der Verfassungsautonomie, die den Ländern nach dem B-VG zusteht. Der Bundesverfassungsgesetzgeber hat aber im {Bundes-Verfassungsgesetz Art 97, Art. 97 B-VG} eine Regelung getroffen, an die der Landesverfassungsgesetzgeber gebunden ist.

Insoweit ist die Verfassungsautonomie der Länder eingeschränkt.

§ 20 Abs. 1 Steiermärkisches L-VG wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Da der Verfassungsgesetzgeber des Landes in § 20 Abs. 1 L-VG 1960, anstatt das Anwesenheitsquorum für Gesetzesbeschlüsse des Landtages selbst zu regeln, auf eine Regelung durch die Geschäftsordnung des Landtages verweist, verletzt er den {Bundes-Verfassungsgesetz Art 97, Art. 97 B-VG}.

Daran ändert auch nichts der Hinweis der Stmk. Landesregierung auf Art. I des zweiten Verfassungs-Überleitungsgesetzes 1945, mit dem u. a. auch die Geschäftsordnungen aller Landtage nach dem Stande der Gesetzgebung vom 5. März 1933 wieder in Wirksamkeit gesetzt wurden.

Denn bei diesem Artikel des Verfassungsgesetzgebers des Jahres 1945 hat es sich nur darum gehandelt, die früheren Bestimmungen wieder in Kraft zu setzen, um ein Funktionieren der Gesetzgebungsorgane zu ermöglichen, nicht aber um eine Veränderung des Ranges der wieder in Kraft gesetzten Bestimmungen. Die Ansicht der Stmk. Landesregierung, daß durch diese Verfassungsbestimmung eine verfassungsrechtliche Sanierung des Art. 20 Abs. 1 L-VG 1960 eingetreten sei, trifft somit nicht zu.

Die Stmk. Landesregierung weist auch noch darauf hin, daß der in Überprüfung gezogene § 20 Abs. 1 L-VG 1960 seit dem L-VG vom 4. Feber 1926, LGBl. 12, unverändert in Geltung steht. Die Landesordnung für das Land Steiermark vom 6. Dezember 1918, LGuVBl. 50/1919 (§ 30) , und die Vorläufige Landesverfassung für das Land Steiermark vom 26. November 1920, LGBl. 1/1921 (§ 39) , hätten das "Anwesenheitserfordernis" selbst geregelt. Wie aus dem Motivenbericht zum L-VG vom 4. Feber 1926 hervorgeht, habe man jedoch später den Standpunkt vertreten, daß in der vorgehenden Vorläufigen Landesverfassung für das Land Steiermark zahlreiche Bestimmungen enthalten seien, die in die Geschäftsordnung des Landtages gehören oder in derselben i. d. F. vom 4. Dezember 1918 schon enthalten seien. Da die Beschlußfassung über die Geschäftsordnung des Landtages überhaupt an die gleiche Mehrheit gebunden sei wie die über Landes- Verfassungsgesetze, liege kein Grund mehr vor, Bestimmungen sowohl in der Landesverfassungsurkunde als auch in der Geschäftsordnung des Landtages doppelt festzusetzen. Unter diesem Gesichtspunkt sei daher eine Reihe von Bestimmungen aus der Verfassung ausgeschieden worden, u. a. auch das Anwesenheitserfordernis für einfache Landtagsbeschlüsse. Landesrat R M habe in der Generaldebatte wörtlich gesagt: "Alle Bestimmungen formeller Natur, so alles, was in der Geschäftsordnung schon enthalten ist, wurde in den vorliegenden Gesetzentwurf nicht mehr aufgenommen." Daraus kann jedoch für die Verfassungsmäßigkeit des Art. 20 Abs. 1 L-VG 1960 gleichfalls nichts gewonnen werden. Diese Entscheidung des Landesverfassungsgesetzgebers erweist sich aus den oben dargelegten Gesichtspunkten als unzulässig.

Wenn man eine doppelte Regelung vermeiden wollte, hätte man, statt die Regelung der Anwesenheitserfordernisse für einen Gesetzesbeschluß aus der Landesverfassung auszuscheiden, diese aus der Geschäftsordnung ausscheiden können.

Zufolge der Fristsetzung gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 Abs. 3 B-VG} ist § 20 Abs. 1 L-VG 1960 während des Laufes der gesetzten Frist verfassungsrechtlich unangreifbar; während dieser Zeit ist daher auch § 48 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Landtages anwendbar. Der VfGH hält es für zweckmäßig darauf hinzuweisen, daß zur Bereinigung der durch die Aufhebung des § 20 Abs. 1 L-VG 1960 geschaffenen Lage eine dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 97, Art. 97 B-VG} entsprechende Änderung des § 20 L-VG 1960 genügt. Da die durch dieses Erk. erfolgte Aufhebung des § 20 Abs. 1 L-VG 1960 nach der ständigen Judikatur des VfGH nur für die Zukunft wirkt, können stmk. Landesgesetze, die unter Anwendung des § 20 Abs. 1 L-VG 1960 zustande gekommen sind, aus diesem Grund nicht mehr auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft werden.

Die §§ 16 und 17 Abs. 3 Grundverkehrsgesetz, LGBl. 24/1954, i. d. F. der Gesetze LGBl. 48/1956 und 79/1961, § 47 und die Abs. 1 der §§ 48 bis 50 Steiermärkisches Landes-Straßenverwaltungsgesetz LStVG 1964, LGBl. 154, (Fassung LGBl. 195/1969) , § 49 Abs. 2 Waldservitutenlandesgesetz und Weideservitutenlandesgesetz 1956, LGBl. 62, § 94 Abs. 2 Gemeindeordnung 1967, LGBl. 115 und § 100 Abs. 2 Statut der Landeshauptstadt Graz 1967, LGBl. 130, der erste Satz im § 3 Abs. 1 Steiermärkisches Schischulgesetz 1969, LGBl. 211 werden als verfassungswidrig aufgehoben (das Anwesenheitsquorum für Gesetzesbeschlüsse des Landtages muß im L-VG selbst geregelt werden) .

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