G6/72 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
§ 136 Abs. 1 Bauordnung, Wiener LGBl. 11/1930 (Fassung LGBl. 28/1956 und 15/1970) , wird nicht als verfassungwidrig aufgehoben.
Schon die BauO für die Reichshauptstadt und Residenzstadt Wien, LGuVBl. für das Erzherzogtum Österreich unter der Enns 35/1883, in der Fassung LGuVBl. 48/1890, hat gemäß § 107 als Rekursbehörde die Bauoberbehörde vorgesehen, die nach § 108 eingerichtet und als Baudeputation für Wien bezeichnet war. Auch die mit Gesetz vom 4. November 1920, LGuVBl. für Österreich unter der Enns 808/1920 geschaffene Bauoberbehörde war Rechtsmittelbehörde in Angelegenheiten der BauO. Diese Zuständigkeitsregelung stand bis zum Inkrafttreten der BauO für Wien LGBl. 11/1930, in Geltung. Durch Art. 111 (in der durch die Zweite B-VGNov., BGBl. 392/1929, geschaffenen und am 11. Dezember 1929 in Kraft getretenen Fassung) ist die Zuständigkeit der Bauoberbehörde für Wien zur Entscheidung in oberster Instanz in Angelegenheiten des Bauwesens verfassungsgesetzlich gesichert worden.
Wie der VfGH in seinem Erk. Slg. 2913/1955 ausgeführt hat, besteht der Inhalt dieser Sicherung darin, daß die Bauoberbehörde in ihrer Funktion als Rechtsmittelinstanz über dem Magistrat in seinem von fremdem Organwillen (nämlich des Gemeinderates, Stadtsenates, Gemeinderatsausschusses) unbeeinträchtigten Geschäftsbereich perpetuiert werden solle, woraus auch folge, daß in den Angelegenheiten des Bauwesens die Kompetenz der Bauoberbehörde (durch Veränderungen im Zuständigkeitsbereich der Vollziehung oder durch weitere Verkürzungen des Instanzenzuges) nicht verringert werden dürfe. Die nun gemäß § 138 BauO eingerichtete Bauoberbehörde ist gemäß der Rechtsprechung des VfGH ein von der Wr. Landesregierung verschiedenes, mit ihr auf gleicher Stufe stehendes oberstes Vollzugsorgan des Landes Wien (vgl. Slg. 2005/1950, 2739/1954, 4389/1963, 4703/1964, 5660/1960). Daran hat auch die B-VGNov. 1962, BGBl. 205, nichts geändert, denn gemäß dem dadurch (§ 1 Z 4) in das B-VG eingefügten Art. 112 gelten die Bestimmungen des Abschnittes C des 4. Hauptstückes, d. s. die Art. 115 bis 120, für die Bundeshauptstadt Wien nur nach Maßgabe des Art. 108 bis 111, wobei die Geltung des Art. 119 Abs. 4 und des Art. 119 a überhaupt ausgeschlossen ist. Damit ist also in Angelegenheiten des Bauwesens die nach Art. 111 B-VG eingerichtete besondere Kollegialbehörde nach wie vor zur Entscheidung in oberster Instanz berufen. Da {Bundes-Verfassungsgesetz Art 111, Art. 111 B-VG} keine Unterscheidung trifft, ist die Zuständigkeit dieser Kollegialbehörde auch gegeben, wenn es sich um Angelegenheiten des Bauwesens, die dem eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde zuzuordnen sind, handelt.
Aus {Bundes-Verfassungsgesetz Art 111, Art. 111 B-VG} ist nicht abzuleiten, daß die Bauoberbehörde nicht auch mit Vollzugsaufgaben auf anderen Gebieten als solchen des Bauwesens befaßt werden dürfte.
Der VfGH hat zu der dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 111, Art. 111 B-VG} in dieser Beziehung vergleichbaren Bestimmung des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 12, Art. 12 Abs. 2 B-VG} im Erk. Slg. 2820/1955 die Rechtsauffassung geäußert, daß daraus nicht zwingend abzuleiten wäre, der Landesagrarsenat dürfte nicht auch mit Vollzugsaufgaben auf anderen Gebieten als solchen der Bodenreform befaßt werden. Die gleiche Überlegung gilt für die Bauoberbehörde.
Werden dieser Behörde andere Angelegenheiten als solche des Bauwesens zur Vollziehung übertragen, so ist sie in dieser Funktion nicht ein mit der Wr. LReg. auf gleicher Stufe stehendes oberstes Vollziehungsorgan. Wohl aber ist es zulässig, wie in allen anderen Angelegenheiten der Landesvollziehung, den Instanzenzug bei der Bauoberbehörde enden zu lassen, denn - wie sich aus der Rechtsprechung des VfGH ergibt (vgl. z. B. Slg. 1946/1950, 3137/1956, 4261/1962, 5410/1966, 5674/1968) -, kann der Instanzenzug durch (einfaches) Landesgesetz verkürzt oder ausgeschlossen werden.
Daß unter einer endgültigen Entscheidung - wie sie im § 136 Abs. 1 BauO normiert ist - der Ausschluß eines weiteren administrativen Rechtsmittels gegen eine solche Entscheidung zu verstehen ist, haben der VfGH und der VwGH wiederholt ausgesprochen (vgl. Slg. 303/1924, 5471/1967; VwGH Slg. 71 A/1947) . Soweit also im § 136 Abs. 1 BauO der Bauoberbehörde die Befugnis zu Berufungsentscheidungen in anderen Angelegenheiten als solchen des Bauwesens übertragen ist, widerspricht dies keiner verfassungsgesetzlichen Norm.
§ 54 Abs. 1, der erste Satz im § 54 Abs. 4 sowie die Bezeichnung "V" im Einleitungssatz des § 139 Abs. 1 Bauordnung für Wien, LGBl. 11/1930 (Fassung LGBl. 28/1956, 15/1970) werden nicht als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Herstellung und Erhaltung des Straßenkörpers in allen seinen Bestandteilen (einschließlich der Gehsteige) ist eine Straßenangelegenheit. Dies schließt es aus, diese Materie gleichzeitig dem Baurecht zuzuordnen. Die Herstellung und Erhaltung von Gehsteigen kann daher auch nicht der Baupolizei (die nichts anderes ist als Verwaltungspolizei auf dem Gebiet des Baurechtes, vgl. Slg. 5823/1968) und in weiterer Folge auch nicht der örtlichen Baupolizei unterstellt werden. Der Umstand, daß Vorschriften, betreffend die Gehsteige, auch in BauO enthalten waren und sind, ändert daran nichts, denn der Landesgesetzgeber ist durch keine verfassungsgesetzliche Norm gehindert, im Rahmen seiner Zuständigkeit in einer BauO auch andere als Bauangelegenheiten zu regeln. Daß sich der Landesgesetzgeber hier im Rahmen seiner Zuständigkeit gehalten hat, ergibt sich daraus, daß die BauO gemäß ihrem Art. 1 Abs. 2 insoweit keine Geltung hat, als eine Angelegenheit in die Zuständigkeit des Bundes fällt (vgl. auch Slg. 6261/1970) .
§ 54 BauO enthält eine verwaltungsbehördliche Tätigkeit in bezug auf Verkehrsflächen der Gemeinde i. S. des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 Z 4 B-VG}. Es entspricht dem Verfassungsgebot des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 letzter Satz B-VG}, wenn diese Aufgabe im § 139 Abs. 1 BauO als solche des eigenen Wirkungsbereiches bezeichnet ist.
Die in der BauO getroffene Regelung der Gehsteigherstellung ist dadurch gekennzeichnet, daß zwar der Anlieger den Gehsteig auf seine Kosten herzustellen hat, daß ihm jedoch im Rahmen des § 54 ein Anspruch auf Rückersatz von Kosten zusteht. Die sachliche Rechtfertigung dafür, Kosten der Gehsteigherstellung den Anliegern aufzuerlegen, ist darin begründet, daß die Gehsteige der Aufschließung der an die Verkehrsfläche (deren Bestandteil sie sind) angrenzenden Grundstücke dienen. Nach der BauO steht diese Belastung der Anrainer in einer sachlichen Relation zu der Art der in dem Gebiet zulässigen Bebauung (je nach Siedlungsgebieten, Gebieten mit Bauklasseneinteilung, d. s. Wohngebiete und gemischte Baugebiete, Lagerplätzen, Ländeflächen, Industriegebiete) . In den Bestimmungen, die einen Rückersatz von Kosten für den Fall vorsehen, daß die vorgeschriebene Breite eines Gehsteiges das im Gesetz bestimmte Höchstausmaß überschreitet, hat der Gesetzgeber die Interessen der Allgemeinheit berücksichtigt, denen die Gehsteige gleichfalls zu dienen bestimmt sind.
Wenn die Erlassung von Vorschriften über die Herstellung von Gehsteigen einschließlich der Verpflichtung hiezu ohne Einschränkung eine Straßenangelegenheit (Art. 10 Abs. 1 Z 9 und {Bundes-Verfassungsgesetz Art 15, Art. 15 Abs. 1 B-VG}) ist, dann liegt in einer solchen Feststellung zugleich der Ausspruch, daß es sich nicht um eine Angelegenheit des Abgabenwesens ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 13, Art. 13 B-VG}) handelt. Die Zuordnung einer bestimmt umschriebenen Angelegenheit zu dem einen Kompetenztatbestand schließt nämlich die gleichzeitige Zuordnung zu dem anderen Kompetenztatbestand aus.
Wenn auch der VfGH schon mehrfach ausgesprochen hat, daß Gemeinde i. S. des Art. 118 Abs. 2 und 3 B-VG nicht die konkrete, im Einzelfall zuständige Gebietskörperschaft, sondern die Gemeinde schlechthin, also die abstrakte Gemeinde ist (z. B. Slg. 5409/1966, 5647/1967) , so kann dann, wenn die Zuständigkeit der Gemeinde von einem solchen Umstand abhängt, wie ihn die Bedeutung einer Verkehrsfläche für den lokalen Verkehr darstellt, doch nur von den lokalen Verhältnissen ausgegangen werden.
Die Bedeutung von Verkehrsflächen für den lokalen Verkehr ist nun an den für Wien gegebenen Verhältnissen zu messen.
Dabei ist davon auszugehen, daß die für den Durchzugsverkehr bedeutenden Straßen i. S. des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 9 B-VG} vom BStG 1971, BGBl. 286, als Bundesstraßen erklärt sind. Wie in den EB zur RV dieses Gesetzes (242 BlgNR, XII. GP) ausgeführt ist, liegt der Neufassung der als Bundesstraßen erklärten Straßenzüge eine als "Neubewertung der Bundesstraßen" benannte Untersuchung zugrunde, der wiederum eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen und auch eine unter Zugrundelegung der Vorausschau für die Entwicklung und Verteilung der Wohnbevölkerung und Arbeitsbevölkerung erstellte Motorisierungsprognose vorangegangen ist. Da derzeit in Wien - wie sich aus den einen Bestandteil des Bundesstraßengesetzes 1971 bildenden Verzeichnissen ergibt - alle Verkehrsflächen, die überwiegend übergeordneten Interessen dienen, als Bundesstraßen erklärt sind, bleibt also die Bedeutung der übrigen Verkehrsflächen auf den Lokalverkehr innerhalb des Stadtgebietes (das zugleich Gemeindegebiet und Landesgebiet ist) und den Nachbargemeinden beschränkt. Damit sind diese Verkehrsflächen aber solche i. S. des Art. 118 Abs. 3 Z 4 B-VG und des entsprechenden § 76 Z 4 der Wiener Stadtverfassung, LGBl. 28/1968. Aus diesen Darlegungen folgt, daß § 54 Bauordnung eine verwaltungsbehördliche Tätigkeit in bezug auf Verkehrsflächen der Gemeinde i. S. des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 Z 4 B-VG} regelt und es daher dem Verfassungsgebot des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 letzter Satz B-VG} entspricht, wenn diese Aufgabe im § 139 Abs. 1 BauO als solche des eigenen Wirkungsbereiches bezeichnet ist.