JudikaturVfGH

G33/70 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
16. März 1971

Der erste Satz im § 19 Abs. 2 des Bundesgesetzes betreffend Ausgestaltung des staatlichen Wohnfürsorgefonds zu einem Bundes-, Wohn- und Siedlungsfonds, BGBl. 252/1921 (Fassung BGBl. 224/1922) wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Durch § 35 Abs. 1 GebG 1946, BGBl. 184/1946 (derzeit § 35 Abs. 1 GebG 1957 BGBl. 267/1957) wurde nun bestimmt, daß die in früheren (vor dem 13. März 1938 erlassenen) österreichischen Gesetzen vorgesehenen Stempelgebührenbefreiungen und Rechtsgebührenbefreiungen sinngemäß Anwendung finden, sofern diese Gesetze in Kraft stehen oder wieder in Kraft gesetzt werden. Die Befreiungsbestimmungen des § 19 Abs. 2 Bundes-, Wohn- und Siedlungsfonds-Gesetz (BWSFG) waren in einem vor dem 13. März 1938 erlassenen Gesetz vorgesehen, welches im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gebührengesetzes 1946 am 13. Oktober 1946 in Kraft gestanden ist (das BWSFG ist auch während der deutschen Herrschaft in Österreich nicht aufgehoben worden) .

Soweit die mit 1. April 1939 aufgehobenen Bestimmungen des § 19 Abs. 2 BWSFG Stempelgebührenbefreiungen und Rechtsgebührenbefreiungen enthielten, sind sie also am 13. Oktober 1946 wieder in Kraft gesetzt worden (vgl. hiezu auch VwGH Slg. 1577 F/1957) . Die Formulierung des GebG, daß die früher aufgehobenen gesetzlichen Befreiungsbestimmungen wieder sinngemäß Anwendung finden, bedeutet nichts anderes, als daß diese Befreiungsbestimmungen wieder die Wirksamkeit eines Gesetzes haben. Daß die" sinngemäße "Anwendung der Befreiungsbestimmungen normiert worden ist, hat seinen Grund darin, daß das auf dem GebG 1946 beruhende neue österreichische Gebührenrecht nicht dem auf dem Gebührengesetz aus dem Jahre 1850 beruhenden gleicht. Daß diese Befreiungsbestimmungen auch vom Gesetzgeber als geltendes Recht behandelt werden, geht aus § 36 Abs. 1 lit. b Wohnbauförderungsgesetz 1968, BGBl. 280/1967 (WBFG 1968) , hervor, wonach das BWFSG mit Ausnahme einiger Bestimmungen, darunter des § 19, mit 1. Jänner 1968 seine Wirksamkeit verliert. Die hiemit ausdrücklich über den 1. Jänner 1968 hinaus in Geltung belassenen Befreiungsbestimmungen des § 19 Abs. 2 BWSFG gelten aber jedenfalls zufolge der besonderen Befreiungsbestimmungen des § 35 Abs. 1 WBFG 1968 nicht für die durch dieses Gesetz unmittelbar veranlaßten Schriften und Rechtsgeschäfte, so daß für Darlehen i. S. des § 11 Abs. 1 und 5 WBFG 1968 nicht die Befreiungsbestimmungen des § 19 Abs. 2 BWSFG, sondern jene des § 35 Abs. 1 WBFG 1968 gelten.

Gemäß § 35 Abs. 1 GebG 1946 sind aber nur Stempelgebührenbefreiungen und Rechtsgebührenbefreiungen, die in früheren österreichischen Gesetzen vorgesehen waren, mit 13. Oktober 1946 wieder in Kraft gesetzt worden. Damit hat der Gesetzgeber des GebührenG nur Befreiungsbestimmungen, die in Gesetzen enthalten waren, nicht aber Befreiungsbestimmungen, die in Verordnungen enthalten waren, wieder in Kraft gesetzt. Er hätte dies auf verfassungsmäßige Weise nach Ablauf der Geltungsperiode der Vorläufigen Verfassung auch nicht können (vgl. Slg. 5436/1966) . Die Durchführungsverordnung, BGBl. 210/1925, ist somit durch § 35 Abs. 1 GebG 1946 nicht wieder in Kraft gesetzt worden. Ein Akt des Verordnungsgebers zur Wiederinkraftsetzung der Durchführungsverordnung auf Grundlage des mit 13. Oktober 1946 wieder geltenden § 19 Abs. 2 BWSFG ist nicht erfolgt. Somit gehört die Durchführungsverordnung in dem hier in Betracht zu ziehenden Umfang seit dem 1. April 1939 nicht mehr dem geltenden Recht an.

Die gleichen Überlegungen gelten auch für die Gebührenbestimmungen des Art. 46 des Statutes des Bundes-, Wohn- und Siedlungsfonds, BGBl. 187/1925.

Die dieses Gesetzesprüfungsverfahren veranlassenden Beschwerdefälle beziehen sich auf die Befreiung von Stempelgebühren und Rechtsgebühren für Darlehen. Diese Befreiung ist in dem die Rechtsgeschäfte und Urkunden betreffenden Teil des ersten Satzes im § 19 Abs. 2 Bundesfondsgesetz, Wohnfondsgesetz und Siedlungsfondsgesetz enthalten, kann jedoch infolge der sprachlichen Fassung der Bestimmung nicht von ihrem übrigen Inhalt getrennt werden. Die festgestellte Verfassungswidrigkeit erfaßt somit den ganzen Satz.

Auf ein Vorbringen der Beteiligten ist zu bemerken, daß es nicht möglich ist, den Sitz der Verfassungswidrigkeit bloß in den Worten " unter den durch Verordnung festzusetzenden Voraussetzungen "zu sehen. Der Gesetzgeber sah eine an Voraussetzungen gebundene Gebührenbefreiung vor. Würden bloß die genannten Worte als verfassungswidrig aufgehoben, so enthielte der verbleibende Gesetzestext eine nicht an Voraussetzungen gebundene Gebührenbefreiung. Damit würde die Befreiungsbestimmung völlig verändert. Zu einer Aufhebung von Gesetzesstellen mit der Wirkung einer derartigen Gesetzesänderung ist der VfGH nicht befugt. Die am Prüfungsverfahren beteiligten Bf. wiesen zwar mit Recht darauf hin, daß auch die Aufhebung des ganzen ersten Satzes eine Gesetzesänderung bewirke, weil damit die Befreiungsbestimmung überhaupt beseitigt würde. Dies trifft zu, liegt aber darin begründet, daß das Gesetzesprüfungsverfahren nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 B-VG} bei festgestellter Verfassungswidrigkeit zur Aufhebung eines Gesetzes oder bestimmter Teile eines solchen führen muß. Würde nun eine gesetzliche Gebührenbefreiung durch Aufhebung einiger Wörter des Gesetzestextes in ihrem rechtlichen Gehalt verändert, so hat der VfGH nur die Möglichkeit, die ganze Befreiung zu beseitigen (vgl. Slg. 4471/1963, 5653/1968) . Es ist dann Sache des Gesetzgebers, die Konsequenzen aus der durch das Erk. des VfGH geschaffenen Rechtslage zu ziehen.

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