G22/70 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
§ 5 des Gesetzes vom 14. November 1968 über die Mindestpflanzabstände für Kulturpflanzen von fremden Grundstücken, Niederösterreichisches LGBl. 30/1969, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Die Beantwortung der Frage, unter welche Kompetenzbestimmung des B-VG eine bestimmte Angelegenheit zu subsumieren ist, richtet sich grundsätzlich nach dem Inhalt des Gesetzes; der mit einer Regelung verfolgte Zweck ist nur in jenen Fällen von Belang, in denen ein Kompetenztatbestand ausdrücklich auf den Zweck Bezug nimmt (vgl. Slg. 558/1926, 2452/1952, 2658/1954, 4387/1963, 5649/1967) .
Der Kompetenztatbestand des Zivilrechtswesens enthält keine Bezugnahme auf den Zweck der Regelung.
Nach § 5 des Niederösterreichischen Gesetzes über die Mindestpflanzabstände für Kulturpflanzen von fremden Grundstücken, LGBl. 30/1969, ist ein behördlicher Eingriff von Amts wegen nicht möglich, sondern es ist für die Auslösung des behördlichen Eingriffes allein ein Antrag, also eine Willensentscheidung des betroffenen Anrainers, maßgeblich, wobei jedoch der Verwirklichung dieses Willens im Interesse des Nachbarn Schranken gesetzt sind: Einerseits durch eine zeitliche Begrenzung des Antragsrechtes, anderseits dadurch, daß ein Antrag ausgeschlossen ist, wenn er ein an keine inhaltlichen Voraussetzungen gebundenes Übereinkommen über Pflanzabstände vorlegt, die die gesetzlichen Mindestpflanzabstände unterschreiten. Es ist also in mehrfacher Hinsicht dispositives Recht gegeben: Die Bindung an die gesetzlichen Mindestpflanzabstände wird einerseits durch Verstreichenlassen der Antragspflicht, anderseits durch ein Übereinkommen ausgeschaltet, dessen Zustandekommen und Inhalt völlig in das Belieben der Parteien gestellt ist. Der Inhalt dieser Regelung besteht also in der Abgrenzung des Interesses einzelner Personen; öffentliche Interessen sind nicht Gegenstand der Norm. Durch eine solche Regelung werden i. S. des {Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 1, § 1 ABGB} "Privatrechte und Pflichten der Einwohner des Staates unter sich bestimmt" ; es handelt sich nicht um eine Einschränkung der Eigentumsausübung "zur Erhaltung und zur Förderung des allgemeinen Wohles" i. S. des {Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 364, § 364 ABGB}, also nicht um eine Eigentumsbeschränkung, die durch Verwaltungsvorschriften statuiert werden kann, und die aus dem Begriff des Zivilrechtswesens ausgeschieden erscheint (vgl. Slg. 2658/1954, 4605/1963, 5534/1967) . Eine Regelung, wie sie das Gesetz LGBl. 30/1969 zum Gegenstand hat, ist daher nach der Systematik der Rechtsordnung, wie sie zur Zeit des Wirksamkeitsbeginnes der Kompetenzverteilung bestanden hat, als Angelegenheit des Zivilrechtes anzusehen (vgl. Slg. 2658/1954, 3121/1956, 4204/1962, 4605/1964, 5521/1967, 5534/1967) .