JudikaturVfGH

G20/70 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
14. Oktober 1970

Art. IX Abs. 3 letzter Satz Jurisdiktionsnorm, JN, RGBl. 110/1895, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Der VfGH erkennt in ständiger Rechtsprechung, daß er sich nicht für berechtigt hält, bei der Prüfung der Frage, ob die Vorschrift, deren Verfassungswidrigkeit oder Gesetzwidrigkeit behauptet wird, für die Entscheidung des Gerichtes präjudiziell ist, das Gericht an eine bestimmte Auslegung zu binden und damit auf diese Art der gerichtlichen Entscheidung indirekt vorzugreifen. Ein Mangel der Präjudizialität liegt daher nur dann vor, wenn die zur Prüfung beantragte Bestimmung ganz offenbar und schon begrifflich überhaupt nicht als eine Voraussetzung des gerichtlichen Erk. in Betracht kommen kann (vgl. u. a. Slg. 2713/1954, 4158/1962, 4318/1962, 5357/1966) .

Dieser Grundsatz gilt aber nicht für die Frage, ob ein angegriffenes Gesetz noch in Geltung steht. Zur Prüfung bereits aufgehobener oder sonst außer Wirksamkeit getretener Bestimmungen ist der VfGH nicht zuständig (vgl. u. a. Slg. 3853/1960, 4185/1962, 4509/1963, 5610/1957, 5717/1968) . Der VfGH hatte daher, weil dies seine Zuständigkeit in der Sache selbst und nicht die Legitimation des Gerichtes betrifft, ohne Bedachtnahme auf die rechtliche Beurteilung der Geltung des Gesetzes durch das antragstellende Gericht selbst zu entscheiden, ob der letzte Satz des Art. IX Abs. 3 EGJN noch dem Rechtsbestand angehört.

Ob durch das Wiederinkrafttreten einer österreichischen Verfassungsvorschrift im Jahre 1945 in diesem Zeitpunkt bestehende einfache Rechtsvorschriften aufgehoben worden sind, hängt vom Inhalt der Verfassungsvorschrift ab. Nur insoweit darin auch eine Anordnung liegt, die das Weiterbestehen von Rechtsvorschriften ausschließt, sie also außer Kraft setzt, ist Derogation eingetreten (Slg. 5810/1968, früher schon Slg. 5630/1967, 5120/1965) . In diesen Erk. hat der VfGH z. B. den Vorschriften der Art. 7, 18 Abs. 1 und 94 B-VG keinen derogatorischen Inhalt beigemessen, sondern hat eine Verfassungswidrigkeit angenommen, wenn eine gesetzliche Vorschrift einem der genannten verfassungsgesetzlichen Grundsätze nicht entspricht. Bei Art. IX Abs. 3 letzter Satz EGJN liegt ein Fall dieser Art vor. Keine Verfassungsbestimmung hat einen die Geltung der angefochtenen Gesetzesvorschrift beseitigenden Inhalt.

Über das Vorliegen der inländischen Gerichtsbarkeit haben nach der Vorschrift des {Jurisdiktionsnorm § 42, § 42 Abs. 1 JN} die Gerichte zu entscheiden. Hievon macht Art. IX Abs. 3 EGJN für den Fall eines Zweifels des Gerichtes ("wenn es zweifelhaft ist") eine Ausnahme, denn die nach dieser Gesetzesstelle vom Gerichte angeforderte Erklärung des Justizministers ist für das Gericht für die Beurteilung der Zuständigkeit bindend. Diese Gesetzesvorschrift hat daher nicht die Bedeutung, eine Sachgrundlage für die gerichtliche Entscheidung zu schaffen, die Erklärung des Justizministers hat vielmehr die Wirkung, daß durch sie der Bereich der inländischen Gerichtsbarkeit abgegrenzt wird.

Dieser normative Akt ist kein Bescheid i. S. des Verwaltungsverfahrensrechtes, des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 131, Art. 131 Abs. 1 Z 1 B-VG} oder des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 144, Art. 144 Abs. 1 B-VG}. Der in ihm enthaltene Befehl richtet sich unmittelbar an das Gericht, was allein schon eine Unterstellung unter den Bescheidbegriff ausschließt, denn es werden nicht, was für diesen wesentlich wäre, Rechte oder Rechtsverhältnisse des Gerichtes festgestellt oder gestaltet. Auch den Prozeßparteien gegenüber ist die Erklärung des Justizministers kein Bescheid.

Der prozessuale Vorgang wird durch die Übermittlung der Erklärung an das Gericht vollendet. Den Prozeßparteien steht auf deren Inhalt keine Ingerenz zu, sie unterliegt nicht der Kontrolle durch den VwGH oder VfGH. Der Grund für die Endgültigkeit der Geltung der Erklärung des Justizministers beruht daher nicht in der Unterlassung der Anrufung der Gerichte des öffentlichen Rechtes durch die Prozeßparteien, sondern ist eine der Erklärung unmittelbar innewohnende rechtliche Eigenschaft.

Die Erklärung läßt sich aber auch nicht dem Begriff einer Verordnung zuordnen, wobei die sog. Verwaltungsverordnungen von vornherein ausscheiden, denn darunter werden bestimmte generelle Vorschriften von Verwaltungsbehörden an unterstellte Verwaltungsbehörden verstanden. Aber auch eine Qualifikation als Rechtsverordnung ist auszuschließen. Das Verwaltungsgeschehen ist im Art. IX Abs. 3 EGJN abschließend umschrieben, die Kundmachung, die ein essentielles Merkmal für eine gesetzmäßige Rechtsverordnung ist, hat nicht stattzufinden. Die Erklärung des Justizministers ist aber auch keine an die Allgemeinheit überhaupt oder an bestimmte nach Gattungsmerkmalen bezeichnete Gruppe der Bevölkerung adressierte Anordnung, sondern Adressat der Anordnung ist in Wahrheit nur eine im vorhinein individuell bestimmte Mehrheit von Personen. Neben den Prozeßparteien richtet sich die Anordnung auch an das Gericht. Dem VfGH scheint es nicht richtig zu sein, diesen Individualbegriff - Gericht - in die zur Entscheidung berufenen allenfalls mehrere Personen aufzulösen, um auf diese Weise eine generelle Adresse zu begründen.

Die bindende Erklärung des Justizministers hat in der Form einer autoritativen Feststellung der Rechtslage auf dem Gebiete der Exterritorialität den Auftrag an das anfragende Gericht zum Inhalt, in einer individuell bestimmten Prozeßsache die ihr entsprechende Entscheidung zu treffen.

Diese Norm läßt sich unter keine der österreichischen Rechtsordnung bekannten Verwaltungsformen einreihen.

Der VfGH glaubt, daß der vorliegende Fall nicht zwingt, darüber zu entscheiden, ob in der österreichischen Verfassung außer Bescheiden, Verordnungen und Weisungen noch andere normative Akte zulässig sind, weil die Regelung, die der Art. IX Abs. 3 EGJN in seinem Schlußsatz enthält, ohne Rücksicht darauf eine unmittelbare Beurteilung zuläßt.

Nach dieser Gesetzesvorschrift ist der Justizminister eine dem Gerichte zwar nicht organisatorisch aber entscheidungsmäßig vorgesetzte Behörde. Zur Entscheidung ein und derselben Rechtssache werden Verwaltungsbehörde und Gericht zu einer Gesamtheit verflochten. {Bundes-Verfassungsgesetz Art 94, Art. 94 B-VG}, demzufolge die Justiz von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt ist, läßt es jedoch nicht zu, daß über dieselbe Sache Gerichte und Verwaltungsbehörden nebeneinander oder nacheinander entscheiden (Slg. 4455/1963) .

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