B363/69 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Dem Begriff Bauwesen im Art. 111 B-VG kommt nicht die Bedeutung zu, die Kompetenz der Bauoberbehörde im einzelnen zu bestimmen. Aus dem geschichtlichen Zusammenhang ist zu schließen, daß eine Regelung mit dem Inhalt einer Entschädigung für die Einschränkung der Ausübung des Eigentumsrechts aus dem Grund der Erhaltung und Beförderung des allgemeinen Wohles ({Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 364, § 364 ABGB}) oder für den Entzug des Eigentums ({Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 365, § 365 ABGB}), mögen die Ansprüche auf Entschädigung auch durch die Erlassung von baurechtlichen Maßnahmen ausgelöst werden, verfahrensrechtlich nicht als eine "Bauangelegenheit" angesehen worden ist. Das gleiche gilt demgemäß auch für "Bauwesen" im {Bundes-Verfassungsgesetz Art 111, Art. 111 B-VG}.
Die Materie der Grundeinlösung, wie sie im § 59 Bauordnung f. Wien geregelt ist, gehört entgegen der Ansicht des VwGH (Beschluß vom 8. April 1968, Z. 1305/1967) nicht zum eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden. Es ist nicht zulässig, auf dem Wege der Generalklausel des Art. 118 Abs. 2 B-VG die im Abs. 3 genannten Angelegenheiten zu erweitern. (So schon Slg. 5807/1968 .) Der Umstand, daß die BauO f. Wien über die Höhe der Entschädigung letztlich die ordentlichen Gerichte zur Entscheidung beruft, läßt eine Unterstellung der Materie unter die Begriffsmerkmale des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG} nicht zu. Für die Zugehörigkeit einer Angelegenheit zum eigenen Wirkungsbereich ist nach dieser Verfassungsbestimmung auch deren Eignung erforderlich, durch die Gemeinschaft innerhalb ihrer örtlichen Grenzen besorgt zu werden. Bei der Beurteilung, ob eine Angelegenheit diese Eignung hat, können herrschende Rechtsvorstellungen nicht unberücksichtigt bleiben. Die Anordnung der BauO, daß über die Höhe der Entschädigung endgültig die Gerichte zu entscheiden haben, entspricht {Eisenbahnenteignungsgesetz (EisenbEntG 1954) § 18, § 18 Eisenbahnenteignungsgesetz}, BGBl. 71/1954, und bringt den Gedanken zum Ausdruck, daß es angemessener und zweckmäßiger ist, die Entscheidung hierüber den Gerichten zu überlassen. Dem Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG kommt nun nicht die Bedeutung zu, mit diesen Rechtsvorstellungen endgültig zu brechen. Wenn die Zuständigkeit der Gerichte weiter bestehen bleibt, so schließt dies die Zuordnung dieser Angelegenheit zum eigenen Wirkungsbereich aus. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Enteignung und die Festsetzung der Höhe der Entschädigung stellen zwei Verfahrensabschnitte in der als Einheit aufzufassenden Materie der Enteignung dar; daher ist die Regelung in ihrer Gänze nicht dem eigenen Wirkungsbereich zu unterstellen. Das gilt auch für die gleich zu behandelnde Angelegenheit der Einlösungsansprüche.
Zwischen {Bundes-Verfassungsgesetz Art 111, Art. 111 B-VG} und der zeitlich späteren Regelung der BauO für Wien über die Zuständigkeit der Landesregierung besteht kein inhaltlicher Widerspruch.
Der VfGH hält an der im Erk. Slg. 2913/1955 ausgesprochenen Ansicht fest, daß sich der Sinn der Verfassungsbestimmung des Art. 111 B-VG in dem Zwang auf das Land Wien erschöpft, die Einrichtung der besonderen Kollegialbehörde (Bauoberbehörde) in der Gestalt, in der sie im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der B-VGNov. 1929 bestanden hat, beizuhalten. § 107 der BauO für Wien, LGBl. 35/1883 (Fassung Niederösterreichisches LGuVBl. 808/1920) , hatte bestimmt, daß, wer sich durch eine von dem Magistrate in Angelegenheiten dieser BauO getroffenen Entscheidung beschwert erachtet, bei dem Magistrate den Rekurs an die Bauoberbehörde einzubringen hat. Die Materie der Entschädigung für Beschränkungen und Entziehungen des Eigentums war damals rudimentär geregelt. Die Vollziehung oblag den Gerichten. In der mit der heutigen Regelung der Voraussetzungen über eine Grundeinlösung vergleichbaren Situation nach der BauO 1883 (bzw. 1920) kam dem Magistrat keine Kompetenz zu, und eine Befassung der Bauoberbehörde kam daher nicht in Frage. Eine Regelung, die gegenwärtig die Zuständigkeit der Bauoberbehörde auf diesem Gebiete ausschließt, steht daher zu Art. 111 B-VG nicht im Widerspruch. Der {Bundes-Verfassungsgesetz Art 111, Art. 111 B-VG} hat somit nicht den Sinn, die Kompetenz der Bauoberbehörde im einzelnen zu bestimmen.