KII-1/67 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Eine Regelung, welche ohne Zusammenhang mit einer bestimmten, in den Gesetzgebungsbereich der Länder fallenden Angelegenheit die Tierquälerei für gerichtlich strafbar erklärt, ist gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG} (Strafrechtswesen) Bundessache in Gesetzgebung und Vollziehung.
Bezüglich der Erlassung von Strafbestimmungen gegen Tierquälerei ist zu unterscheiden. Verwaltungsstrafbestimmungen können nur im Zusammenhang mit Angelegenheiten, die in den Zuständigkeitsbereich des Bundes oder der Länder fallen, erlassen werden. Je nach der Materie, auf die sie sich beziehen, obliegt ihre Erlassung und Vollziehung dem Bunde oder den Ländern. Die Erlassung von gerichtlichen Strafbestimmungen dagegen ist nicht an den Zusammenhang mit der Regelung anderer Angelegenheiten gebunden.
Die Beantwortung der Frage, unter welche Kompetenzbestimmung des B-VG eine bestimmte Angelegenheit zu subsumieren ist, richtet sich grundsätzlich nach dem Inhalt des Gesetzes; nur wenn die Umschreibung eines Kompetenztatbestandes ausdrücklich darauf Bezug nimmt, auf welchem Gebiet und zu welchem Zweck eine Regelung erfolgen soll, ist von diesen Umständen auszugehen.
Die Verfassung enthält keine Definition des Begriffes "Strafrechtswesen" . Gleichwohl sind wesentliche Begriffsmerkmale aus den Bestimmungen des B-VG zu gewinnen. Der Umfang des Begriffes "Strafrechtswesen" wird durch die in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG} im Hinblick auf die Begrenzung der Bundeskompetenz enthaltene Bestimmung des Ausschlusses des Verwaltungsstrafrechtes und Verwaltungsstrafverfahrens in den Angelegenheiten, die in den selbständigen Wirkungsbereich der Länder fallen, näher determiniert.
Daraus ist nämlich abzuleiten, daß der Begriff sowohl das (materielle) Strafrecht als auch das Strafverfahren umfaßt, u. zw. sowohl das von den gerichtlichen Organen zu vollziehende als auch das von Verwaltungsorganen zu vollziehende. Aus {Bundes-Verfassungsgesetz Art 11, Art. 11 Abs. 2 B-VG} ist weiters zu erkennen, daß schon verfassungsgesetzlich eine Unterteilung des materiellen Strafrechtes in allgemeine und besondere Bestimmungen vorgenommen wird, wobei unter den besonderen Bestimmungen in der Gesetzgebung und in der Lehre die Normierung des als strafbar erklärten Verhaltens (also die Normierung der einzelnen Straftatbestände) und der an ein strafbares Verhalten geknüpften Strafen zu verstehen sind.
Aus den Bestimmungen des B-VG ist nicht abzuleiten, daß der Kompetenztatbestand "Strafrechtswesen" bezüglich der Normierung von Straftatbeständen und der an ein tatbestandsmäßiges Verhalten geknüpften Strafen auf die im Zeitpunkt des Wirksamkeitsbeginnes der Kompetenzartikel am 1. Oktober 1925 bestehenden Straftatbestände beschränkt wäre und keine Straftatbestände, die nicht schon zu diesem Zeitpunkt existent waren, neu normiert werden dürften. Die rechtliche Prägung des Kompetenztatbestandes "Strafrechtswesen" im Zeitpunkt seines Wirksamkeitsbeginnes war vielmehr der Art, daß ihm die Schaffung von Straftatbeständen immanent war, so daß auf dem Rechtsgrund dieses Kompetenztatbestandes auch jederzeit Neuregelungen getroffen werden können, ohne auf die Straftatbestände beschränkt zu sein, die im Zeitpunkt des Wirksamkeitsbeginnes der Kompetenzartikel bestanden haben. Dies gilt sowohl für den Bereich des gerichtlichen Strafrechtes als auch des Verwaltungsstrafrechtes.
Aus der in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG} enthaltenen Regelung des Ausschlusses der Angelegenheiten des "Verwaltungsstrafrechtes und Verwaltungsstrafverfahrens in Angelegenheiten, die in den selbständigen Wirkungsbereich der Länder fallen" von der Bundeskompetenz ist abzuleiten, daß sich die Zuständigkeit zur Erlassung und Vollziehung von Verwaltungsstrafbestimmungen nach der Zuständigkeit zur Regelung und Vollziehung der betreffenden Angelegenheit - des Verwaltungszweiges, auf den sich die Verwaltungsstrafbestimmungen beziehen - richtet.
Bezüglich des gerichtlichen Strafrechtes normiert Art. 10 B-VG keine derartige Bindung an eine Materie. In diesem Bereich des Strafrechtswesens kommt somit dem Bund eine Zuständigkeit zu, die von dem Zusammenhang mit anderen im Gesetzgebungsbereich des Bundes liegenden Angelegenheiten losgelöst ist. Das Strafrechtswesen als solches ist eben - soweit es nicht das B-VG selbst in einen Zusammenhang mit anderen Angelegenheiten stellt - eine "Angelegenheit" gleich den anderen in den Art. 10 bis 15 B-VG angeführten Angelegenheiten, und als solches eine besondere Rechtsmaterie.
Der Schutz von Tieren gegen Quälerei ist im B-VG nicht als besonderer Kompetenztatbestand enthalten. Bestimmungen solchen Inhaltes können jedoch in einer Reihe von Angelegenheiten, die durch {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 B-VG} der Kompetenz des Bundes zugewiesen sind, in Betracht kommen, so insbesondere in Angelegenheiten des Gewerbes und der Industrie (Z. 8 , des Verkehrswesens, des Kraftfahrwesens (Z. 9) , des Bergwesens, des Forstwesens einschließlich des Triftwesens (Z. 10) , des Gesundheitswesens, des Veterinärwesens (Z. 12) , des Kultus (Z. 13) , in militärischen Angelegenheiten (Z. 15) , ebenso wie in Angelegenheiten der dem Bunde gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 14, Art. 14 B-VG} zukommenden Kompetenz auf dem Gebiete des Schulwesens.
Die gesetzliche Regelung des Schutzes von Tieren gegen Quälerei in solchen Angelegenheiten obliegt dem Bund. Soweit derartige Regelungen nicht im Zusammenhang mit einer der Zuständigkeit des Bundes zugewiesenen Angelegenheit stehen, kommt sie den Ländern zu.
Art. 138 Abs. 2 B-VG enthält keine Einschränkung auf Materien, die gesetzlich bisher nicht geregelt waren; die Möglichkeit einer Antragstellung nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 B-VG} macht einen Antrag nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 138, Art. 138 Abs. 2 B-VG} nicht zulässig.