B254/66 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Die EStNov. 1965, BGBl. Nr. 202, enthält eine Reihe von Änderungen des EStG 1953, darunter in Art. I Z 5 eine Neuregelung der Absetzungen für Abnutzung AfA und für Substanzverringerung (§ 9 Abs. 1 Z 6 EStG 1953) , die gemäß Art. IV Abs. 3 erster Halbsatz erstmals bei der Veranlagung für das Kalenderjahr 1964 anzuwenden ist, und in Art. I Z 6 u. a. eine Neuregelung des Nutzungswertes der selbstbenutzten Eigentumswohnung und der Wohnung im eigenen Einfamilienhaus (§ 21 Abs. 2 EStG 1953) , die gemäß Art. IV Abs. 3 zweiter Halbsatz erstmals bei der Veranlagung für das Kalenderjahr 1965 anzuwenden ist. Aus dem Wortlaut des zitierten Art. IV Abs. 3 ( "Die Bestimmungen des Artikels I Z 5 sind erstmals bei der Veranlagung für das Kalenderjahr 1964 anzuwenden") ergibt sich, daß die Neuregelung der Bestimmungen über die Absetzungen für Abnutzung und für Substanzverringerung uneingeschränkt auf alle das Kalenderjahr 1964 betreffenden Veranlagungsfälle gleich anzuwenden ist. Der Gesetzgeber hat nicht zwischen schon rechtskräftig veranlagten und noch nicht rechtskräftig veranlagten Fällen unterschieden, woraus folgt, daß auch ein rechtskräftiger Bescheid kein Hindernis darstellt, die Veranlagung für das Kalenderjahr 1964 nochmals nach den neuen Bestimmungen vorzunehmen. Die Vollziehung hat alle von der Neuregelung in Art. I Z 5 betroffenen Fälle gleich zu behandeln. Der in Art. IV Abs. 3 liegende Gesetzesbefehl ist unmittelbar wirksam und macht die Heranziehung anderer Vorschriften ( wie etwa der verfahrensrechtlichen Bestimmungen der BAO über die Wiederaufnahme des Verfahrens) überflüssig.
Gegen die umschriebene Norm bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere nicht im Hinblick auf das Gleichheitsgebot. Es ist durchaus sachlich, wenn der Gesetzgeber alle Steuerpflichtigen bezüglich der Absetzungen für Abnutzung und für Substanzverringerung bei der Veranlagung für das Kalenderjahr 1964 gleich behandelt und deshalb die Neuregelung des § 9 Abs. 1 Z 6 EStG 1953 durch die EStNov. 1965 rückwirkend für den ganzen Veranlagungszeitraum wirksam werden läßt. Auch ein hiezu allenfalls nötiger Eingriff in die Rechtskraft läßt sich als sachlich erkennen. Es ist zu beachten, daß einerseits ganz allgemein im Steuerrecht dem Grundsatz der Rechtmäßigkeit gegenüber dem der Rechtsbeständigkeit eine größere Bedeutung zukommt als in anderen Rechtsbereichen (vgl. die Bestimmungen der §§ 293 ff., insbesondere § 299 Abs. 2 in Verbindung mit {Bundesabgabenordnung § 302, § 302 Abs. 1 BAO}) und daß anderseits die Beziehung von Normen auf Zeitabschnitte (z. B. Veranlagungszeitraum, Lohnzahlungszeitraum, Erhebungszeitraum) eine typische Besonderheit des Steuerrechtes darstellt. Wenn der Gesetzgeber die von ihm angestrebte Gleichmäßigkeit der Besteuerung in einem Veranlagungszeitraum nur dadurch erreichen kann, daß er rechtskräftige Entscheidungen unberücksichtigt läßt, ist dies nicht unsachlich. Auch der Umstand, daß Art. IV Abs. 3 erster Halbsatz eine amtswegige Neuveranlagung nicht ausschließt und daher eine Neuveranlagung auch gegen den Willen des Steuerpflichtigen möglich wäre, kann nicht als unsachlich erkannt werden; da die durch die EStNov. 1965 getroffene Neuregelung der Bestimmungen über Absetzungen für Abnutzung und für Substanzverringerung für den Steuerpflichtigen günstiger ist als die bis dahin geltenden Bestimmungen der §§ 7 und 9 EStG 1953 und des § 41 Abs. 3 des Schillingeröffnungsbilanzengesetzes, BGBl. Nr. 190/1954, braucht die Frage, ob ein Eingriff in eine rechtskräftige Veranlagung zum Nachteil des Steuerpflichtigen bedenklich wäre, nicht geprüft zu werden.
Gemäß Art. IV Abs. 4 sind Verfahren, die durch rechtskräftige, dem Art. II entgegenstehende Abgabenbescheide abgeschlossen wurden, über Antrag wiederaufzunehmen, wobei die Antragstellung bis zum 31. Dezember 1965 befristet ist. Die Gesetzesstelle ist unbedenklich im Hinblick auf das Gleichheitsgebot. Es ist nicht unsachlich, wenn der Gesetzgeber in den Fällen längerer Rückwirkung die Anwendung der neugefaßten Bestimmungen von einem Willensakt des Betroffenen abhängig macht und an einen Antrag bindet und dabei auch aus Gründen der Verwaltungsökonomie eine angemessene Frist setzt.
§ 303 BAO regelt in enger Anlehnung an § 69 AVG 1950 die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftigen Bescheid abgeschlossenen Verfahrens. Danach wird die neuerliche Überprüfung eines Bescheides ermöglicht, der durch neu hervorgekommene Umstände gewichtiger Art in seinen Grundlagen erschüttert ist (vgl. Reeger-Stoll, Kommentar zur Bundesabgabenordnung, 1966, Anm. 1 zu § 303 BAO auf S. 947; Mannlicher, Das Verwaltungsverfahren, 7. Auflage, 1964, Anm. 1 zu § 69 AVG 1950 auf S. 296) . Eine nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens eingetretene Änderung der Rechtslage bildet aber keinen verfahrensrechtlich allgemein vorgesehenen Wiederaufnahmegrund. Eine solche verfahrensrechtliche Gestaltung des Rechtsinstitutes der Wiederaufnahme durch § 303 BAO verstößt gegen keine verfassungsgesetzliche Norm. Der VfGH hat keine Bedenken gegen {Bundesabgabenordnung § 303, § 303 BAO} im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz.
Es ist davon auszugehen, daß die verbindende Kraft von Bundesgesetzen im Regelfall, sofern das Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt, nach Ablauf des Tages beginnt, an dem das Stück des Bundesgesetzblattes, das die Kundmachung enthält, herausgegeben und versendet wird ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 49, Art. 49 B-VG}) . Grundsätzlich wirkt sich daher jede Änderung der Rechtslage nur für die Zukunft aus. Es ist aber verfassungsrechtlich nicht ausgeschlossen, von dieser Regel abzugehen und den Beginn der verbindenden Kraft der Gesetze anders zu bestimmen, ihnen also auch rückwirkende Kraft zu verleihen, und zwar auch in der Form, daß bereits rechtskräftig abgeschlossene Verfahren von der Rückwirkung erfaßt werden. Für die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Regelung ist allerdings entscheidend, daß sie am Gleichheitssatz gemessen bestehen kann, d. h., daß sie alle von ihr berührten Fälle soweit gleicherweise trifft, als sie - ganz oder teilweise - gleich sind. Es ist nicht unsachlich, wenn der Gesetzgeber in den Fällen längerer Rückwirkung die Anwendung der neugefaßten Bestimmungen von einem Willensakt des Betroffenen abhängig macht und an einen Antrag bindet und dabei auch aus Gründen der Verwaltungsökonomie eine angemessene Frist setzt.
Hat die Behörde ihrem Bescheid zwar nicht ein gleichheitswidriges Gesetz zugrundegelegt, wohl aber dem zugrundegelegten Gesetz einen Inhalt unterstellt, der, wenn ihn das Gesetz hätte, dieses mit Gleichheitswidrigkeit belasten würde, dann ist das Gleichheitsrecht durch den Bescheid der Verwaltungsbehörde als verletzt anzusehen.
Andernfalls ergäbe sich die Folge, daß ein Bescheid, mit dem ein an sich gleichheitssatzgemäßes Gesetz mit Unterstellung eines gleichheitssatzwidrigen Inhaltes vollzogen wird, selbst nicht gleichheitssatzwidrig wäre, wenn die Behörde bei seiner Erlassung nicht Willkür geübt hat, sondern bemüht war, dem Gesetz die von ihr als richtig unterstellte - gleichheitssatzwidrige - Geltung zu verschaffen.