B75/66 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Die Absätze 1 bis 3 des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 B-VG} enthalten Grundsätze, die gemäß Art. 115 Abs. 2 erster Satz B-VG der Ausführung bedürfen. Der Landesgesetzgeber umschreibt gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 erster Satz B-VG} als Gemeinderechtsgesetzgeber abstrakt den eigenen Wirkungsbereich auch, soweit es sich um Angelegenheiten der Bundesvollziehung handelt.
Daß das Gemeinderecht den eigenen Wirkungsbereich mit abstrakt formulierten Tatbeständen umschreiben muß und diese Umschreibung nicht auch dadurch vornehmen kann, daß es den Inhalt bestimmter gesetzlicher Regelungen als zum eigenen Wirkungsbereich gehörend bezeichnet, ergibt sich aus der Gegenüberstellung der Vorschriften in Art. 115 Abs. 2 erster Satz, Art. 118 Abs. 2 erster Satz, zusammen mit {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 B-VG} und § 5 Abs. 1 B-VG-Novelle 1962 einerseits mit den Vorschriften in Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz und {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} sowie § 5 Abs. 3 B-VG-Novelle 1962 andererseits. Es steht dem Land als Gemeinderechtsgesetzgeber z. B. nicht zu, den Inhalt einer konkreten bundesgesetzlichen Regelung - etwa den Inhalt bestimmter Stellen eines Gesundheitspolizeigesetzes - als in den eigenen Wirkungsbereich fallend zu bezeichnen. Dies könnte zuständigerweise nur der in {Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} bezeichnete Bundesgesetzgeber tun.
Unter "derartige Angelegenheiten" in Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG ist nur jener Inhalt konkreter gesetzlicher Regelungen zu verstehen, der unter die Bestimmung des Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG fällt. Der Inhalt eines jeden Bundesgesetzes und Landesgesetzes muß gemäß der Vorschrift des Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG von der Bundesgesetzgebung bzw. Landesgesetzgebung (Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz B-VG) so weit als zum eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde gehörend bezeichnet werden, als die den eigenen Wirkungsbereich umschreibende Generalklausel des Gemeinderechtsgesetzes (entsprechend dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG}) zutrifft. Unterbleibt diese Bezeichnung, so ist die konkrete gesetzliche Regelung nicht im eigenen Wirkungsbereich zu vollziehen; das Gesetz ist allerdings verfassungswidrig. Der Auftrag des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} ist nämlich an den Bundesgesetzgeber und den Landesgesetzgeber ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz B-VG}) gerichtet.
Die Gesetzgebung gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} kann den Auftrag des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} nicht etwa dadurch erfüllen, daß sie bloß anordnet, der Gesetzesinhalt gehöre soweit zum eigenen Wirkungsbereich, als er von der Generalklausel erfaßt werde.
Der Gesetzgeber hat vielmehr festzustellen, ob und inwieweit auf den Gesetzesinhalt die Generalklausel zutrifft, und je nach dem Ergebnis den Inhalt der Regelung als zum eigenen Wirkungsbereich gehörend zu bezeichnen oder nicht. Der Gesetzgeber selbst hat also die Grenze zu ziehen, er darf die Subsumtion der Gesetzesmaterie unter die Generalklausel und damit die Grenzziehung nicht der Vollziehung überlassen.
Die Vollziehung ist an die vom Gesetzgeber gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG}) getroffene Feststellung gebunden. Sie kann also nicht etwa feststellen, daß ein von der Gesetzgebung als zum eigenen Wirkungsbereich gehörend bezeichneter Gesetzesinhalt kein solcher ist.
Ist eine im Gesetz geregelte Materie nicht gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} bezeichnet, so liegt darin die Feststellung, daß der Inhalt der betreffenden Regelung nicht unter die Generalklausel ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG}) fällt. Auch an diese Feststellung ist die Vollziehung gebunden.
Der Zweck der Vorschrift des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} liegt u. a. darin, zu einer - wenn auch in vielen Gesetzen verstreuten - taxativen Bezeichnung der konkreten gesetzlichen Regelungen zu kommen, die im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde zu vollziehen sind.
Unter "Angelegenheit" i. S. des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} ist also ein konkreter Gesetzesinhalt zu verstehen, während der Begriff "Angelegenheit" i. S. des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG} mit keinem bestimmten Gesetz in Verbindung steht.
Adressat der durch den Gemeinderechtsgesetzgeber ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 erster Satz B-VG}) in Ausführung des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG} zu erlassenden Norm ist also ausschließlich der Gesetzgeber gemäß Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz B-VG (Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG , nicht auch die Vollziehung. Die Vollziehung hat ausschließlich die gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG}) erlassenen Gesetze anzuwenden. Soweit der Inhalt solcher Gesetze nicht gemäß Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG bezeichnet ist, darf er nicht im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde vollzogen werden; dies auch dann nicht, wenn die Bezeichnung verfassungswidrigerweise unterblieben ist.
Die vorstehenden Ausführungen gelten sinngemäß gleich hinsichtlich der durch den Gemeinderechtsgesetzgeber in Ausführung des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 B-VG} abstrakt zu umschreibenden Tatbestände. Unterbleibt verfassungswidrigerweise die Bezeichnung eines von einem dieser Tatbestände erfaßten Inhaltes eines bestimmten Gesetzes als zum eigenen Wirkungsbereich gehörend, so darf die betreffende Gesetzesstelle nicht im eigenen Wirkungsbereich vollzogen werden.
Die Abs. 2 und 3 des Art. 118 B-VG sind ihrem Inhalte nach eine Einheit. Auf die in Art. 118 Abs. 3 B-VG demonstrativ aufgezählten abstrakten Materien trifft die Generalklausel des Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG jedenfalls und unwiderleglich zu. Daraus ergibt sich wiederum, daß die Vorschrift des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} auch hinsichtlich jener konkreten gesetzlichen Regelungen gilt, die von einem der erwähnten demonstrativ aufgezählten abstrakten Tatbestände erfaßt werden. Der Gesetzgeber ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 zweiter Satz B-VG}) selbst muß also bestimmen, ob und inwieweit eine konkrete gesetzliche Regelung im eigenen Wirkungsbereich zu vollziehen ist, so daß es ihm verboten ist, die Anwendung der dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG} entsprechenden Generalklausel des Gemeinderechtsgesetzes ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 erster Satz B-VG}) und der dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 B-VG} entsprechenden "insbesondere" Tatbestände in diesem Gesetz der Vollziehung im einzelnen Fall zu überlassen.
Aus der Übergangsregelung des § 5 Abs. 3 B-VG-Novelle 1962 ergibt sich aber: Die Vorschrift des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} gilt derzeit nur in Ansehung von Gesetzen, die mit 31. Dezember 1965 oder später in Kraft gesetzt wurden bzw. werden.
Gesetzliche Regelungen, die früher als mit 31. Dezember 1965 in Kraft gesetzt worden sind (im folgenden kurz bezeichnet: Altbestandgesetze) , brauchen derzeit noch nicht dem {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} entsprechend bezeichnet zu sein; sie können wegen dieses Mangels derzeit nicht gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 B-VG} als verfassungswidrig aufgehoben werden. Mit einem anderen Mangel in bezug auf Art. 118 Abs. 2 und 3 B-VG kann ein Altbestandgesetz nicht behaftet sein.
Daraus ergibt sich, daß für die Altbestandgesetze die Vorschrift des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 2 zweiter Satz B-VG} bis zur spätestens am 31. Dezember 1968 zu erlassenden Neuregelung als nicht vorhanden anzusehen ist.
Daraus ergibt sich wiederum, daß die Frage, ob eine bestimmte Altbestandgesetzesregelung einen in den eigenen Wirkungsbereich fallenden Inhalt hat, von der Vollziehung unmittelbar an Hand der den Bestimmungen des Art. 118 Abs. 2 erster Satz und Abs. 3 B-VG entsprechenden Regelungen der für das betreffende Land geltenden Gemeinderechtsgesetze (Art. 115 Abs. 2 erster Satz B-VG) festzustellen ist. Hinsichtlich der Altbestandgesetze sind diese Regelungen der betreffenden Gemeinderechtsgesetze also unmittelbar an die Vollziehung gerichtet. Die Vorschriften der Altbestandgesetze sind - mit anderen Worten ausgedrückt - so weit im eigenen Wirkungsbereiche zu vollziehen, als ihr Inhalt unter die den Bestimmungen des Art. 118 Abs. 2 erster Satz und Abs. 3 B-VG entsprechenden Regelungen der für das betreffende Land geltenden Gemeinderechtsgesetze ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 115, Art. 115 Abs. 2 erster Satz B-VG}) fällt.
Zweckmäßigerweise wird hinzugefügt, daß die in den Altbestandgesetzen eingebauten Zuständigkeitsvorschriften und Instanzenzugvorschriften für die Lösung der Frage, ob die im Gesetz geregelte Materie eine solche des eigenen Wirkungsbereiches ist oder nicht, nichts beitragen können.
"Gemeinde" i. S. des Art. 118 Abs. 2 und 3 B-VG und damit auch i. S. der entsprechenden Gemeinderechtsregelungen ist nicht die konkrete im Einzelfall zuständige Gebietskörperschaft; im Art. 118 Abs. 2 und 3 B-VG ist vielmehr von der abstrakten "Gemeinde" , also von der "Gemeinde" schlechthin die Rede ist. Mit dem Wort "Gemeinde" wird demnach im Art. 118 Abs. 2 und 3 B-VG die Art der Gebietskörperschaft bezeichnet.
Im {Bundes-Verfassungsgesetz Art 118, Art. 118 Abs. 3 Z 4 B-VG} ist nur von der "Verwaltung der Verkehrsflächen der Gemeinde" die Rede. Damit hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß alle jene Angelegenheiten der Verkehrsflächen der Gemeinde, die nicht unter "Verwaltung" dieser Flächen - und auch nicht unter "örtliche Straßenpolizei" - fallen, vom eigenen Wirkungsbereich ausgeschlossen sind; der Gesetzgeber hat damit also festgestellt, daß diese ausgeschlossenen Angelegenheiten nicht unter die Generalklausel des Art. 118 Abs. 2 erster Satz B-VG fallen. Die Angelegenheit "Enteignung für Zwecke einer Gemeindestraße" gehört weder zur "Verwaltung" der Gemeindestraße noch fällt sie unter den Begriff "örtliche Straßenpolizei" . Solche Enteignungsregelungen sind daher nicht im eigenen Wirkungsbereich zu vollziehen.
Nach § 84 der Gemeindeordnung Graz 1958 (in den nachstehenden Ausführungen kurz bezeichnet: GOGr.) , der durch die Gemeindeordnungsnovelle Graz 1965, LGBl. Nr. 170/1965 (in den nachstehenden Ausführungen kurz bezeichnet: GONovGr.) , neu gefaßt worden ist, obliegt in den Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches dem Gemeinderat die Entscheidung über Berufungen gegen Bescheide nachgeordneter Organe der Stadt; gegen Bescheide des Gemeinderates findet eine Vorstellung (Art. 119 a Abs. 5 B-VG) nicht statt. Landesgesetzlichen Regelungen, die dieser Vorschrift widersprechen, ist mit Ablauf des 31. Dezember 1965 derogiert worden.
Der eigene Wirkungsbereich der Stadt Graz ist in § 37 Abs. 1 bis 3 GOGr. i. d. F. der GONovGr. abstrakt umschrieben worden. Gegen diese Abs. 1 bis 3 bestehen keine Bedenken im Hinblick auf die B-VG-Novelle 1962.
Die in den §§ 49 und 50 des Stmk. Landesstraßenverwaltungsgesetzes - LStVG 1964 - Anlage zur Wiederverlautbarungskundmachung der Landesregierung, LGBl. Nr. 154/1964, geregelte Enteignung für Zwecke einer Gemeindestraße ist nicht im eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde vorzunehmen.
Im § 37 Abs. 2 Z 4 GOGr. ist nur von der "Verwaltung der Verkehrsflächen der Gemeinde" die Rede. Damit hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß alle jene Angelegenheiten der Verkehrsflächen der Gemeinde, die nicht unter "Verwaltung" dieser Flächen - und auch nicht unter "örtliche Straßenpolizei" - fallen, vom eigenen Wirkungsbereich ausgeschlossen sind; der Gesetzgeber hat damit also festgestellt, daß diese ausgeschlossenen Angelegenheiten nicht unter die Generalklausel des § 37 Abs. 1 GOGr. fallen. Die Angelegenheit "Enteignung für Zwecke einer Gemeindestraße" gehört weder zur "Verwaltung" der Gemeindestraße noch fällt sie unter den Begriff "örtliche Straßenpolizei" . Solche Enteignungsregelungen sind daher nicht im eigenen Wirkungsbereich zu vollziehen.
Die Regelung des § 50 des LStVG 1964, gemäß der über Notwendigkeit, Gegenstand und Umfang der Enteignung für Zwecke der Gemeindestraßen, auf die § 49 Abs. 1 des Gesetzes zutrifft, in erster Instanz die Bezirksverwaltungsbehörde und in zweiter Instanz die Landesregierung zu entscheiden hat, ist durch § 84 GOGr. i. d. F. der GONovGr. 1965 nicht derogiert worden.