JudikaturVfGH

G30/65 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
17. März 1966

Der erste und der zweite Satz im § 30 Abs. 3 des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1955, BGBl. Nr. 125, über das Berufsrecht der Wirtschaftstreuhänder (Wirtschaftstreuhänder-Berufsordnung) , werden als verfassungswidrig aufgehoben. Eingriff der Regelung in die Kompetenz des Bundespräsidenten gemäß Art. 65 Abs. 2 B-VG. Der Bundesgesetzgeber hat keine Zuständigkeit, eine berufsrechtliche Regelung zu treffen, gemäß der es einem Wirtschaftstreuhänder verboten ist, einen vom Bundespräsidenten verliehenen Berufstitel in Ausübung des Berufes zu führen. Die Zuständigkeit, eine solche Regelung zu treffen, läge gemäß Art. 65 Abs. 2 lit. b B-VG ausschließlich beim Bundespräsidenten. Dem für die Regelung des Wirtschaftstreuhänder-Berufsrechtes zuständigen Gesetzgeber fehlt auch dann, wenn die Meinung, daß die Wirtschaftstreuhänder nicht mehr zum "Berufsstand des Handels, des Gewerbes und der Industrie" i. S. der Entschließung des Bundespräsidenten vom 9. Feber 1921, BGBl. Nr. 103, gehören, mit der der Titel "Kommerzialrat" für Angehörige des genannten Berufsstandes geschaffen worden ist, zutrifft, die Zuständigkeit, die Führung des Titels "Kommerzialrat" zu verbieten.

Ausschließlich dem Bundespräsidenten kommt es zu, die Führung eines Berufstitels durch Personen zu regeln, denen der Titel zwar verliehen worden ist, die dem Berufsstand, für den der Titel geschaffen wurde, aber nicht mehr angehören und einen anderen Beruf ausüben.

Die Kompetenz des Bundespräsidenten gemäß Art. 65 Abs. 2 lit. b B-VG ist eine zweifache. Er ist nicht nur zuständig, Berufstitel zu verleihen, sondern er ist auch zuständig, die Berufstitel zu schaffen. Der Bundespräsident verleiht also die Berufstitel nicht auf Grund gesetzlicher Vorschriften - wie dies bei der Verleihung von Amtstiteln gemäß Art. 65 Abs. 2 lit. a B-VG der Fall ist - sondern nach eigener Entschließung (vgl. Kelsen-Froehlich-Merkl "Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920" , Wien 1922, S. 159) . Der Bundespräsident selbst hat also in Angelegenheit der Berufstitel das zu bestimmen, was ansonsten der Gesetzgeber zu regeln hat. Die Vorschrift des Art. 18 Abs. 1 und 2 B-VG gilt demnach hier nicht.

Während also die Amtstitel (Art. 65 Abs. 2 lit. a B-VG) vom Gesetzgeber zu schaffen sind und vom Gesetzgeber das Vorgehen des Bundespräsidenten bei der Verleihung sowie der Inhalt und der Umfang der mit der Verleihung des Titels dem Adressaten zukommenden subjektiven Rechte vorherzubestimmen ist, gibt es für die Berufstitel (Art. 65 Abs. 2 lit. b B-VG) keine gesetzliche Regelung. Alles was im Falle der Amtstitel von dem für ihre Schaffung zuständigen Gesetzgeber zu regeln ist, darf im Falle der Berufstitel nicht durch den Gesetzgeber geregelt werden, weil dafür der Bundespräsident zuständig ist. Im Falle der Berufstitel gibt es weder eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes noch eine solche der Länder. Diese aus dem Wortlaut des Art. 65 Abs. 2 B-VG abgeleitete Feststellung wird allerdings vorbehaltlich möglicher Einschränkungen getroffen, die sich aus der historischen Situation ergeben können.

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