G24/64 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Dem Antrag auf Aufhebung des § 299 Abs. 1 und 2 der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961, wird keine Folge gegeben.
Der VfGH hält an seiner im Erk. Slg. 4273/1962 ausgeführten Auffassung fest, daß es Grundprinzipien der Verfassung nicht widerspricht, wenn durch aufsichtsrechtliche Verfügungen formellrechtliche und materiellrechtliche Entscheidungen aufgehoben werden, weil die Bundesverfassung weder ausdrückliche Rechtssätze über den Umfang der Rechtskraft von Bescheiden enthält, noch aus ihr Rechtssätze solchen Inhaltes abgeleitet werden können.
Die Befugnis nach {Bundesabgabenordnung § 299, § 299 Abs. 2 BAO}, daß ein Bescheid wegen Rechtswidrigkeit aufgehoben werden kann, wird durch {Bundesabgabenordnung § 302, § 302 BAO} wesentlich beschränkt, weil die Befugnis der Aufsichtsbehörde auf ein Jahr nach Rechtskraft des Bescheides eingeschränkt ist. Nach diesem Zeitpunkt kann ein Bescheid weder wegen schwerer noch wegen leichter Rechtswidrigkeiten aufgehoben werden. Innerhalb des einen Jahres stellt der Gesetzgeber die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die materielle Richtigkeit der Entscheidung über die Rechtssicherheit.
Nach Ablauf dieses Zeitraumes überwiegt hingegen die Rechtssicherheit. Dadurch, daß die auf Grund des aufhebenden Bescheides neu erlassenen Bescheide nach Erschöpfung des Instanzenzuges der nachprüfenden Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes unterliegen, ist auch möglichst Gewähr dafür geboten, daß diese Befugnisse tatsächlich nur zur Herstellung des gesetzlichen Zustandes benützt werden.
Wie sich aus dem Wort "kann" im § 299 BAO ergibt, ist der Oberbehörde bei Wahrnehmung des Aufsichtsrechtes tatsächlich ein gewisses Ermessen eingeräumt worden, das sie i. S. einer ordnungsgemäßen Führung der Verwaltung auszuüben hat. Sie wird also in jedem Einzelfall abzuwägen haben, ob der Fall sich zu einer Maßnahme nach {Bundesabgabenordnung § 299, § 299 BAO} eignet, ob ein Fall vorliegt, in welchem die Rechtmäßigkeit des Bescheides vor der Rechtssicherheit zu stehen hat.
Die Parteien haben zwar keinen Anspruch auf eine Maßnahme der Dienstaufsicht. Die Aufsichtsbehörde ist auch keine Rechtsmittelinstanz, es ist deshalb nicht ihre Aufgabe, sich alle Entscheidungen der Unterbehörde vorlegen zu lassen und sie auf ihre Gesetzmäßigkeit zu überprüfen. Allein nimmt sie - sei es auf Anregung der Parteien, sei es von Amts wegen im Zuge der dienstaufsichtsbehördlichen Prüfung der Amtsführung - eine relevante Gesetzwidrigkeit des Bescheides wahr, so hat sie nach § 299 BAO gleichgültig, ob zum Vorteil oder zum Nachteil des Abgabenpflichtigen, mit der Aufhebung des bereits rechtskräftigen Bescheides vorzugehen. Nur dann, wenn die Behörde bei der Prüfung zu dem Schluß kommt, es liege nur eine geringfügige Rechtswidrigkeit vor, oder die wahrgenommene Rechtswidrigkeit habe keine wesentlichen Folgen nach sich gezogen, wird sie in Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens von einer Maßnahme nach {Bundesabgabenordnung § 299, § 299 BAO} absehen können. Nach Ansicht des VfGH ist somit Sinn und Grenze des eingeräumten Ermessens hinreichend klar. Der Forderung nach Rechtssicherheit ist dadurch Genüge getan, daß nach einem Jahr auch bei schwersten Fällen der Rechtswidrigkeit eine Aufhebung nicht möglich ist, und auch dadurch, daß Bescheide der Berufungssenate wegen Rechtswidrigkeit nur zur Klaglosstellung einer Partei, nicht aber zu einem anderen Zweck aufgehoben werden können.
Die Regelung widerspricht nicht dem Gleichheitsgebot. Es ist nicht unsachlich, der Behörde auch dann noch eine Maßnahme im Aufsichtsweg einzuräumen, wenn der Bescheid bereits vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechtes angefochten worden ist.
Dem Gesetzgeber ist es durch das Gleichheitsgebot verwehrt, Differenzierungen zu schaffen, die nicht aus entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen ableitbar sind, also nicht sachlich begründbar sind.
Der Bescheidbegriff des Art. 144 B-VG ist mit dem Bescheidbegriff des § 56 AVG 1950 nicht ident. Unter einem Bescheid i. S. des Art. 144 B-VG versteht man jede Erledigung einer Verwaltungsbehörde, womit ein individuelles Rechtsverhältnis gestaltet oder festgestellt wird, ob sie nun in Form eines Bescheides nach § 56 AVG 1950 ergeht oder nicht. Der Bescheidbegriff des § 56 AVG 1950 ist trotz des gleichen Wortlautes enger als der Bescheidbegriff des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 144, Art. 144 B-VG}.
Aus § 68 AVG 1950 ergibt sich keineswegs eine abschließende Regelung der materiellen Rechtskraft, denn § 68 Abs. 6 AVG 1950 läßt eine Durchbrechung der Rechtskraft aus weiteren, in den Verwaltungsvorschriften liegenden Gründen zu.