JudikaturVfGH

B352/62 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
22. Juni 1963

Das Kollektivvertragsrecht ist eine Angelegenheit des Arbeitsvertragsrechtes. Das Arbeitsvertragsrecht ist nach Maßgabe folgender Vorschriften in Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache: Soweit es sich um Angestellte - einschließlich solcher in der Landwirtschaft und Forstwirtschaft - handelt, gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG}; soweit es sich um Arbeiter - ausgenommen solche in der Landwirtschaft und Forstwirtschaft - handelt, gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 10, Art. 10 Abs. 1 Z 11 B-VG}; soweit es sich um die im BVG BGBl. Nr. 139/1948 genannten Arbeiter in der Landwirtschaft und Forstwirtschaft handelt, gemäß § 1 dieses BVG. Die nicht dem BVG BGBl. Nr. 139/1948 unterliegenden landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Arbeiter sind von den Bestimmungen des Kollektivvertragsgesetzes gemäß § 1 Abs. 4 ausgenommen. Ihr Kollektivvertragsrecht einschließlich der Einigungskommissionen und der Obereinigungskommission ist gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 12, Art. 12 Abs. 1 Z 4 B-VG} durch Abschnitt 3 (§§ 45-55) des Landarbeitsgesetzes, BGBl. Nr. 140/1948, in den Grundsätzen geregelt.

Das KVG, dessen Vollziehung gemäß § 49 Abs. 2 Organen des Bundes obliegt, entspricht den Kompetenzvorschriften der Bundesverfassung.

Mitglieder von Kollegialbehörden sind der Vorschrift des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 20, Art. 20 B-VG} über die Weisungsgebundenheit der Verwaltungsorgane unterworfen, wenn keine Vorschrift besteht, daß die Mitglieder des Kollegiums in Ausübung ihres Amtes selbständig und unabhängig sein sollen.

Das von Vorsitzenden, ihren Stellvertretern oder den Mitgliedern einer Kollegialbehörde nach dem Gesetz zu leistende Gelöbnis zur gewissenhaften und unparteiischen Ausübung ihres Amtes entbindet die Genannten nicht ihrer verfassungsgesetzlich angeordneten Verpflichtung, zur Befolgung von Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe mit der Einschränkung, daß die Befolgung abgelehnt werden kann, wenn sie gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde ( {Bundes-Verfassungsgesetz Art 20, Art. 20 Abs. 1 zweiter Satz B-VG}) .

Das KVG enthält keinerlei Vorschrift, die die Vorsitzenden, ihre Stellvertreter oder die Mitglieder der Einigungsämter selbständig und unabhängig machen würde. Das von ihnen nach § 29 Abs. 2 bzw. § 30 Abs. 1 des Gesetzes zu leistende Gelöbnis zur gewissenhaften und unparteiischen Ausübung ihres Amtes entbindet sie nicht ihrer verfassungsgesetzlich angeordneten Verpflichtung zur Befolgung von Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe mit der Einschränkung, daß die Befolgung abgelehnt werden kann, wenn sie gegen strafgesetzliche Vorschriften verstoßen würde ({Bundes-Verfassungsgesetz Art 20, Art. 20 Abs. 1 zweiter Satz B-VG}) .

Die im Mutterschutzgesetz geregelte Materie zählt zu den Angelegenheiten des Arbeiterschutzes und des Angestelltenschutzes und ist - soweit es sich nicht um landwirtschaftliche und forstwirtschaftliche Arbeiter und Angestellte handelt - gemäß Art. 10 Abs. 1 Z 11 B-VG, ferner für den im BVG BGBl. Nr. 139/1948 umschriebenen Personenkreis nach § 1 dieses BVG in Gesetzgebung und Vollziehung Bundessache. Die Vorschriften des MutterschutzG finden nach § 1 Abs. 2 lit. a auf Dienstnehmerinnen keine Anwendung, die in einem Dienstverhältnis stehen, das dem LandarbeitsG, BGBl. Nr. 140/1948, unterliegt, d. s. nach § 1 Abs. 1 lit. b dieses Gesetzes landwirtschaftliche und forstwirtschaftliche Arbeiter und Angestellte. Für den Mutterschutz dieses Personenkreises gilt § 75 des auf Grund des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 12, Art. 12 Abs. 1 Z 4 B-VG} erlassenen LandarbeitsG.

Das MutterschutzG - dessen Vollziehung gemäß § 40 Abs. 2 Organen des Bundes obliegt - ist daher den Kompetenzvorschriften der Bundesverfassung entsprechend zustandegekommen.

Der Bundesverfassung ist eine Vorschrift, daß Angelegenheiten des Zivilrechtes ausschließlich den Gerichten zur Vollziehung übertragen werden müssen, fremd. Der Bundesgesetzgeber kann Verwaltungsbehörden mit der Rechtsprechung in Zivilrechtsangelegenheiten betrauen. Die Bundesverfassung enthält keine Definition des Begriffes der Gerichtsbarkeit, woraus folgt, daß die Bestimmung der Grenzen der Gerichtsbarkeit einerseits und der Verwaltung andererseits - nicht nur nach der Jurisdiktionsnorm, sondern auch nach der Bundesverfassung - der einfachen Gesetzgebung überlassen ist.

Die Vorschrift des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 94, Art. 94 B-VG}, die besagt, daß die Justiz von der Verwaltung in allen Instanzen getrennt ist, bedeutet nicht eine materielle Gewaltenteilung. Sie bezieht sich lediglich auf die Behördenorganisation: Ein und dieselbe Behörde darf nicht zugleich als Gerichtsbehörde und als Verwaltungsbehörde organisiert sein, woraus sich ergibt, daß über dieselbe Sache nicht Gerichte und Verwaltungsbehörden - nebeneinander oder nacheinander - entscheiden dürfen.

Den Einigungsämtern obliegt es, nach § 10 Abs. 3 des MutterschutzG die Zustimmung zur Kündigung zu erteilen oder zu versagen. Die Gerichte dagegen haben zu entscheiden, ob die Kündigung hinsichtlich Form, Termin und Fristen entsprechend oder dem Grunde nach zulässig ist. Eine unzulässige organisatorische und vollziehende Verbindung der staatlichen Gewalten liegt nicht vor. Gegen die Verfassungsmäßigkeit der §§ 10 Abs. 3 und 13 des MutterschutzG ergeben sich keine Bedenken.

Eine Untätigkeit des Gesetzgebers wäre als willkürlich und daher als gegen den Gleichheitssatz verstoßend zu werten, wenn durch sie bei völlig gleichen Tatbeständen eine Differenzierung nach unsachlichen Unterscheidungsmerkmalen herbeigeführt würde (Erk. des VfGH Slg. 3822/1960) . Handelt es sich jedoch um die ungleiche Behandlung zweier verschiedener Tatbestände, deren einer von der Untätigkeit des Gesetzgebers betroffen wird, dann scheidet die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes von Anfang an aus, weil die Untätigkeit des Gesetzgebers in einem solchen Falle nicht unter die Sanktion dieses Grundsatzes gestellt werden kann.

Rückverweise