JudikaturVfGH

B260/61 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
16. Dezember 1961

Der Hauptausschuß ist ein Organ des Nationalrates, dessen Mitglieder von Verfassungs wegen im Rahmen der Rechtsordnung in ihren Entschließungen frei sind, was sich gegenwärtig aus den Bestimmungen der Art. 56 und 57 B-VG über das Prinzip des freien Mandates und der Immunität ergibt. Dies schließt für die Mitglieder des Hauptausschusses jegliche Möglichkeit einer Bindung ihres Verhaltens aus. Das Verhalten des Teilorgans "Hauptausschuß" kann infolgedessen nicht schon aus dem Grunde allein unrechtmäßig sein, weil es der Ansicht einer anderen Autorität widerspricht.

Die Aufhebung einer gemäß Art. 55 Abs. 1 B-VG im Einvernehmen mit dem Hauptausschuß des Nationalrates erlassenen Verordnung erzeugt keine die Entscheidungsfreiheit des Verordnungsgebers einschränkende Bindung.

Nach § 87 Abs. 2 VerfGG (Fassung von Art. I P. 6 der VerfGGNov. 1947, BGBl. Nr. 132) sind die Verwaltungsbehörden verpflichtet, wenn der Bescheid der Verwaltungsbehörde aufgehoben wird, in dem betreffenden Fall mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des VfGH entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Diese Regelung durch einfaches Gesetz verwirklicht den im Art. 129 B-VG (Fassung der Verfassungsgerichtsbarkeits-Novelle und Verwaltungsgerichtsbarkeits- Novelle 1946, BGBl. Nr. 211) enthaltenen Grundgedanken, demzufolge der VwGH zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung berufen ist. Diese Gesetzmäßigkeit wäre nicht gesichert, wenn eine Bindung der Verwaltungsbehörden an die Rechtsanschauung des VwGH nicht bestünde. Dasselbe gilt auch für den VfGH, soweit er als Sonderverwaltungsgerichtshof tätig wird. In den früheren Fassungen des B-VG war keine dem gegenwärtigen Art. 129 B-VG entsprechende Generalklausel enthalten. Hingegen enthielt die Verfassung selbst eine dem § 87 Abs. 2 VerfGG 1953 entsprechende Regelung, so das B-VG 1920 im Art. 133 Abs. 2 und Art. 144 Abs. 2 und das B-VG 1929 im Art. 133 Abs. 3 und Art. 144 Abs. 2. Eine konkrete Regelung dieser Art ist gegenwärtig wegen des allgemeinen und umfassenden Inhaltes des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 129, Art. 129 B-VG}, der die Regelung des § 87 Abs. 2 VerfGG 1953 und die gleichlautende des § 50 VwGG 1952 miteinschließt, entbehrlich. Ein von einer Verwaltungsbehörde erlassener Ersatzbescheid ist in der gleichen Art wie der vom VwGH oder VfGH aufgehobene Bescheid schon allein dann gesetzwidrig oder verfassungswidrig, wenn er nicht der Rechtsanschauung des VwGH oder des VfGH entspricht.

Hebt der VfGH ein Gesetz als verfassungswidrig auf, so ergibt sich hieraus noch keine Verpflichtung des Nationalrates und Bundesrates für eine spätere Tätigkeit. Die Kompetenzen der gesetzgebenden Körperschaften und die Kompetenz des VfGH stehen nebeneinander.

Sollte der Nationalrat im Zusammenwirken mit den übrigen zur Gesetzgebung berufenen Organen ein vom VfGH aufgehobenes Gesetz neuerlich beschließen, so ist nicht die Beschlußfassung als solche wegen des Widerspruches zum Erk. des VfGH verfassungswidrig, denn in einem Erk. nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 B-VG} ist nicht von Verfassungs wegen ein dem § 87 Abs. 2 VerfGG 1953 und § 50 VwGG 1952 entsprechender Vollstreckungsbefehl enthalten. Der VfGH hat vielmehr in einem solchen Fall lediglich das Ergebnis der neuerlichen Beschlußfassung selbständig und von neuem zu prüfen.

Jegliche Verwaltungsbehörde i. S. des Art. 144 B-VG ist bei einer einem aufhebenden Erkenntnis nachfolgenden Tätigkeit einer Bindung an die Rechtsanschauung des VfGH rechtlich unterworfen. Ist nun aber wegen der verfassungsgesetzlichen Stellung des Organs eine solche Bindung ausgeschlossen, so liegt keine Verwaltungsbehörde i. S. des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 144, Art. 144 B-VG} vor. Individuelle Hoheitsakte solcher Organe sind keine Bescheide.

Das Entscheidungsorgan "Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuß des Nationalrates" kann wegen der verfassungsrechtlichen Stellung des aus Mitgliedern des Nationalrates zusammengesetzten Hauptausschusses einer Bindung an die Rechtsanschauung des VfGH nicht unterliegen: es ist damit keine Verwaltungsbehörde i. S. des Art. 144 B-VG. Das Ergebnis der diesem Staatsorgan übertragenen "Festsetzung" (§ 2 letzter Satz) ist damit auch kein Bescheid i. S. des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 144, Art. 144 B-VG}. Daraus folgt, daß der VfGH zur Prüfung der Tätigkeit dieses Organs nicht zuständig ist.

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