JudikaturVfGH

G19/60 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
24. Juni 1961

§ 10 Abs. 2 lit. e VwGG 1952, BGBl. Nr. 96, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Art. 136 und 148 B-VG enthalten keine Vollmacht, im Wege der einfachen Gesetzgebung die Antragslegitimation des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 Abs. 1 B-VG} zu erweitern oder einzuschränken, denn sie ermächtigen die Bundesgesetzgebung lediglich zur Erlassung der näheren Bestimmungen über Einrichtung, Aufgabenkreis und Verfahren des VwGH und zur Regelung der näheren Organisation und des Verfahrens des VfGH.

Der VfGH hat zwar zu wiederholten Malen ausgesprochen, daß im Zweifel ein einfaches Gesetz in einem Sinne auszulegen sei, welcher es nicht als verfassungswidrig erscheinen läßt; der Zweifel an dem verfassungswidrigen oder verfassungsmäßigen Sinn eines einfachen Gesetzes ist aber verfassungsrechtlich von anderer Art als der Zweifel an der Bedeutung einer Verfassungsnorm. Der ihr zukommende Rang schließt es aus, sie im Falle eines Zweifels an ihrem Sinn so auszulegen, daß das einfache Gesetz Bestand habe. Das bedeutet allerdings nicht, daß einfachgesetzliche Regelungen für die Auslegung von Verfassungsvorschriften nicht herangezogen werden dürfen. So kommt es für die Auslegung von Begriffen einer Verfassungsnorm sehr wohl auf die solchen Begriffen nach der Sprache der Gesetze zukommende Bedeutung an, denn es muß angenommen werden, daß der Verfassungsgesetzgeber die von ihm verwendeten Begriffe in der herkömmlichen und von ihm vorgefundenen Bedeutung gebraucht.

Eine Verordnung ist in einem amtswegigen Prüfungsverfahren nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 139, Art. 139 Abs. 1 B-VG} - in der gleichen Weise wie für die Gerichte und damit auch für den VwGH - dann eine "Voraussetzung eines Erkenntnisses" des VfGH, wenn sie der VfGH bei der Entscheidung in einer bei ihm anhängigen Rechtssache anzuwenden hat und wenn er gegen ihre Anwendung aus dem Grunde ihrer Gesetzwidrigkeit Bedenken hat.

Dem Ausdruck "Voraussetzung eines Erkenntnisses" im {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 B-VG}, der sich sowohl auf die Anträge des Obersten Gerichtshofes und des VwGH als auch auf das amtswegige Prüfungsverfahren bezieht, kann ein anderer Sinn nicht innewohnen. Die angeführten Verfassungsbestimmungen lassen sohin eine Trennung der Begriffe " Anwendung einer Verordnung oder eines Gesetzes" und "Bedenken" gegen diese nicht zu.

Zur Antragstellung nach {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 Abs. 1 B-VG} sind jene Organe des Obersten Gerichtshofes und des VwGH legitimiert, die bei der Entscheidung über eine Rechtssache ein Gesetz, gegen welches sie aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit Bedenken hegen, anzuwenden haben.

Daraus folgt, daß von dieser Antragstellung jene Organe dieser Gerichtshöfe ausgeschlossen sind, die die Rechtssache nicht zu entscheiden haben.

Der Vollversammlung des VwGH ist keine Kompetenz auf dem Gebiete der Rechtsprechung übertragen worden.

Die Behauptung, daß das Prinzip der Unmittelbarkeit des gerichtlichen Verfahrens verfassungsrechtlich nicht normiert sei, ist im allgemeinen richtig. Der einfache Gesetzgeber hat bei der Gestaltung des Verfahrens überall dort freie Hand, wo er nicht im Einzelfall durch Verfassungsbestimmungen beschränkt wird.

Der Oberste Gerichtshof entscheidet in Senaten (§§ 2 und 3, Gesetz vom 24. Februar 1907, RGBl. Nr. 41) . Daneben besteht noch ein Senat von drei Richtern, dessen Zuständigkeit in § 4 Abs. 2 leg. cit. geregelt ist. Der "vollen Ratsversammlung sämtlicher Mitglieder" des Obersten Gerichtshofes (§ 15 Satz 1, Statut des Obersten Gerichtshofes, Kaiserliches Patent vom 7. August 1850, RGBl. Nr. 325 und dem "Plenarsenat" , bestehend aus wenigstens 15 Mitgliedern mit Einschluß des Vorsitzenden (§ 15 Satz 2, Statut) , ist durch § 16 lit. f des Statutes die Entscheidung einer von den Gerichten verschieden oder unrichtig entschiedenen Rechtsfrage übertragen worden, wenn der Generalprokurator über Auftrag des BM für Justiz die Abhaltung einer Plenarversammlung beantragt. Außerdem sind nach der näheren Regelung der "Instruktion" (Allerhöchste Entschließung vom 8. August 1872) verstärkte Senate (§ 3) und die Senate nach den §§ 4 und 5 zur Entscheidung von Rechtsfragen (Judikate) berufen, die in einer im einzelnen verschieden geregelten Art die zur Entscheidung in den konkreten Rechtssachen zuständigen Senate binden.

Es ist denkbar, daß diese Gremien im Rahmen der ihnen zugeteilten Kompetenzen zur Antragstellung gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 140, Art. 140 B-VG} berufen sind.

Daraus, daß die Oktobernovelle 1945 zur Vorläufigen Verfassung (StGBl. Nr. 196/1945) durch § 48 a zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und der Verwaltung nach Art. 137 bis 144 des B-VG i. d. F. von 1929 die Errichtung des VfGH angeordnet hatte, ergibt sich, daß mit dem Wirksamwerden der Oktobernovelle 1945 am 21. Oktober 1945 die genannten Verfassungsbestimmungen in Kraft gesetzt worden sind.

Der in Art. III Abs. 2 Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeitsnovelle 1946, BGBl.Nr. 211, enthaltene Hinweis auf eine Geltung des rezipierten und gleichzeitig abgeänderten VwGG 1945 als Ausführungsgesetz schließt die Annahme aus, daß es durch das B-VG auf die Stufe eines Verfassungsgesetzes gehoben wäre. Ein über die Zuordnung des VwGG zu dem Art. 136 i. d. F. der Nov. 1946 hinausgehender Sinn kommt dem Art. III Abs. 2 nicht zu. Aus Art. III Abs. 2 kann nicht entnommen werden, daß die Bestimmungen des einfachen VwGG nach jeder Richtung hin verfassungsmäßig sind.

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