JudikaturVfGH

B11/60 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
19. März 1960

Es ist weder die Natur der Angelegenheit, die einem Vollziehungsorgan zugewiesen ist, noch die Eigentümlichkeit des Verfahrens, nach dem sie dabei vorzugehen hat, für die Beantwortung der Frage entscheidend, ob dieses Vollziehungsorgan ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde ist. Vielmehr kommt es einzig und allein auf das formelle Moment an, ob das Organ, um das es sich handelt, mit den verfassungsgesetzlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit ausgestattet ist. Gerichtsbarkeit i. S. des B-VG ist Vollziehung der Gesetze durch die mit den verfassungsgesetzlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit ausgestatteten Organe, Verwaltung ist Vollziehung der Gesetze durch jedes andere nichtrichterliche Organ.

Die sachlich begründete Errichtung eines Fachgerichtes für einen konkret umschriebenen sachlichen Wirkungsbereich durch den Bund widerspricht, für sich allein betrachtet, nicht dem Gleichheitsgrundsatz.

Daher bestehen z. B. gegen die Einrichtung des Disziplinargerichtes für die Notare gemäß §§ 159 ff. der Notariatsordnung keine Bedenken wegen eines Widerspruches mit {Bundes-Verfassungsgesetz Art 7, Art. 7 B-VG}.

Ein Richter befindet sich gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 87, Art. 87 Abs. 2 B-VG} auch bei Besorgung von Justizverwaltungssachen, die nach Vorschrift des Gesetzes durch Senate zu erledigen sind, in Ausübung seines richterlichen Amtes.

Der Disziplinarsenat des Obersten Gerichtshofes, gegen dessen Urteil sich die Beschwerde richtet, entscheidet in Disziplinarangelegenheiten der Notare und Notariatskandidaten gemäß §§ 159 ff. NO, RGBl. Nr. 75/1871, in der geltenden Fassung, als Disziplinargericht, d. h. nicht als Verwaltungsbehörde, sondern als Gericht i. S. des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 82, Art. 82 B-VG}. Entscheidend für die Qualifikation der Notarenrichter ist nur, ob sie als Vollzugsorgane unabhängig und absetzbar sind. Dabei spricht keineswegs gegen ihre Richtereigenschaft, daß sie gemäß § 161 a Abs. 2 NO von den Notariatskammern aus dem Notariatskollegium für die Dauer von 3 Jahren gewählt werden und daß für sie nicht die Altersgrenze gilt.

Die scheinbar dieser Regelung widersprechenden Bestimmungen des B-VG gelten nur für die in der Ziviljustiz und Strafjustiz tätigen Berufsrichter. Nach § 161 b Abs. 3 NO dürfen Notarenrichter ihr Amt nicht ausüben, wenn gegen sie wegen eines Verbrechens der dort angeführten Vergehen und Übertretungen oder wegen eines Disziplinarvergehens ein Verfahren im Zuge ist. Das Amt erlischt mit der Verurteilung. Diese Vorschrift zwingt zu dem Schluß, daß die Notarenrichter auf andere Weise ihres Amtes nicht enthoben werden können. Sie sind also in dieser Funktion mit den gleichen Prärogativen ausgestattet wie die Laienrichter in den Handelssenaten und sind damit Richter i. S. des Art. 87 Abs. 1 und 88 Abs. 2 B-VG.

Rückverweise