V17/57 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Der VfGH ist zuständig, die richtige Anwendung eines unbestimmten Gesetzesbegriffes durch den Verordnungsgeber zu überprüfen. Ein unbestimmter Gesetzesbegriff muß trotz seiner unbestimmten Ausdrucksweise - zumindest im Zusammenhalt mit den übrigen Bestimmungen des Gesetzes - eine bestimmte Regelung umschreiben, soll er den Vorschriften des {Bundes-Verfassungsgesetz Art 18, Art. 18 B-VG} entsprechen. Ob im einzelnen Fall die Regelung zutrifft, muß die Behörde vor der Erlassung der Verordnung beurteilen und sie muß das Ergebnis dieser Beurteilung bei der Erlassung der Verordnung beachten. Die Erfüllung dieser Verpflichtung der Behörde unterliegt der nachgehenden Prüfung durch den VfGH im Verfahren gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 139, Art. 139 B-VG}.
Gemäß § 1 der Bauordnung für Wien dürfen Abänderungen des Bebauungsplanes nur dann vorgenommen werden, wenn wichtige Rücksichten es erfordern. Hätte die Bestimmung nur den Inhalt, daß die eine Abänderung des Bebauungsplanes erfordernden wichtigen Rücksichten, ohne die entgegenstehenden Rücksichten in Rechnung stellen zu müssen, für sich allein - sozusagen brutto - ausreichen, um die abändernde Verordnung zu erlassen, so würde sie verfassungsrechtlich bedenklich sein. "Wichtig" wäre bei dieser Auslegung jede Rücksicht, die neben einer weniger wichtigen stehen würde; der Begriff würde keinen bestimmten Inhalt haben. Ebenso farblos wäre das Wort "erfordern" ; jede für eine Änderung sprechende Rücksicht würde die Änderung "erfordern" . Die Regelung würde als formalgesetzliche Delegation wirken. Diese Auslegung ist jedoch unzulässig. Sind nämlich mehrere Auslegungen eines Gesetzes möglich, so darf nicht der der Vorzug gegeben werden, die zu einem der Verfassung widersprechenden Ergebnis führt. Jede Gesetzesbestimmung muß vielmehr im Zweifelsfalle so verstanden werden, daß sie im Rahmen der gesamten Rechtsordnung zu bestehen vermag. Ob eine Rücksicht wichtig i. S. des § 1 der BauO für Wien ist, muß - soll der Begriff einen bestimmten Inhalt haben - an den im einzelnen Fall gegen die Abänderung sprechenden Rücksichten gemessen werden. Es können demnach Rücksichten, die für eine Abänderung des Bebauungsplanes sprechen, nur dann als so wichtig angesehen werden, daß sie die Abänderung erfordern, wenn sie die Summe aller dagegenstehenden Rücksichten überwiegen, wenn sie also gewichtiger sind als die dagegenstehenden Rücksichten. Daraus ergibt sich, daß Abänderungen des Bebauungsplanes nur so weit vorgenommen werden dürfen, als es das Übergewicht der dafür sprechenden Rücksichten erfordert. Weitergehende Abänderungsmaßnahmen würden im Gesetz keine Deckung finden; die durch {Bundes-Verfassungsgesetz Art 18, Art. 18 B-VG} gezogenen Grenzen würden überschritten.