JudikaturVfGH

G4/53 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
24. Juni 1953

Es ist gewiß richtig, daß die Bedeutung von gesetzlichen Bestimmungen, auch wenn ihr Wortlaut unverändert bleibt, im Rechtsleben mitunter eine Wandlung erfährt und daher der geschichtliche Ursprung der Bestimmungen im allgemeinen keine verläßliche Handhabe für die Erforschung ihres gegenwärtigen Sinnes bieten wird. Die historische Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung wird aber jedenfalls dann dauernde Geltung beanspruchen dürfen, wenn sie im Wortlaut des Gesetzes selbst zum Ausdruck kommt. Tritt die geschichtlich feststellbare Absicht des Gesetzgebers auch im Wortlaut des Gesetzes deutlich in Erscheinung, so kann der Ablauf der Zeit seit der Erlassung des Gesetzes keinen entscheidenden Wandel in seiner Auslegung herbeiführen.

Wenn es im Art. 6 StGG heißt "jeder Staatsbürger kann Liegenschaften jeder Art erwerben ..." , so ist damit ganz unverkennbar die frühere ständische Gliederung der Bevölkerung in Gutsherren und Grundherren, Bürger und Gutsuntertanen einerseits und die von ihr abgeleitete Scheidung von Dominikalgütern, Urbarialgütern und Rustikalgütern anderseits abgelehnt. Jeder Staatsbürger soll im Gegensatz zu der früheren Ordnung nicht nur Liegenschaften der seinem Stande entsprechenden Kategorie, sondern jede Art von Liegenschaften erwerben können. Darin liegt aber zugleich die Begrenzung der durch Art. 6 StGG gewährleisteten Freiheit. Wäre die Bestimmung so gemeint, daß selbst durch Gesetz dem Liegenschaftsverkehr überhaupt keine Schranken gesetzt werden können, so wären die Worte "jeder Art" gänzlich überflüssig.

Ohne sichtbaren Grund kann dem Gesetzgeber nicht zugemutet werden, daß er überflüssige Worte gebraucht.

Daran ändert es nichts, daß Art. 6 StGG auch das Recht gewährleistet, über die Liegenschaften frei zu verfügen. Denn dieser Beisatz bringt nur zum Ausdruck, daß mit der Freiheit des Liegenschaftserwerbes, also mit der Beseitigung der dem Eigentumsrecht selbst gesetzten Schranken, auch die freie Ausübung des Eigentumsrechtes i. S. der §§ 362 ff. ABGB gewährleistet wird. Es sind also Beschränkungen des Liegenschaftsverkehrs, die nicht in der Sonderung der Stände und der ihr entsprechenden Unterscheidung von Liegenschaftskategorien ihren Grund haben, keine Verletzung des in diesem Gesetze aufgestellten Grundsatzes und daher nicht verfassungswidrig.

Die Regelung des Verkehrs mit landwirtschaftlichen oder forstwirtschaftlichen Grundstücken (Grundverkehrsrecht) steht nach dem gegenwärtigen Stande der Kompetenzverteilung gemäß {Bundes-Verfassungsgesetz Art 15, Art. 15 Abs. 1 B-VG} in Gesetzgebung und Vollziehung den Ländern zu.

Mit den im {Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 364, § 364 ABGB} genannten Gesetzen sind jene Verwaltungsvorschriften gemeint, die im Interesse der Allgemeinheit der Ausübung des Eigentums Grenzen setzen. Es kommen hier sowohl bundesgesetzliche als auch landesgesetzliche Bestimmungen in Frage, je nach der Art der Materie, um deren Regelung es sich handelt und die den Eingriff in die Freiheit der Eigentumsausübung notwendigerweise mit sich bringt (wie im Bereich der Landesgesetzgebung das Baurecht, Jagdrecht, Fischereirecht, Naturschutzrecht usw.) . Zur Regelung einer solchen Materie ist jener Gesetzgeber berufen, der nach den Kompetenzbestimmungen des B-VG in Frage kommt.

Unter den Begriff "Bodenreform" fallen beispielsweise die Grundentlastung, Aufhebung des Lehensbandes, Servitutenregulierung, in neuer Zeit Wiederbesiedlung usw., nicht aber bloße Beschränkungen des vertragsmäßigen Liegenschaftsverkehrs, die lediglich unter dem Gesichtspunkt des Einzelfalles, insbesondere nach der Person des Erwerbers, beurteilt werden.

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