F1/11 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Abweisung des Antrags der Vorarlberger Landesregierung auf Aufhebung der Wortfolgen "Stufe 1: für Personen, deren Pflegebedarf nach Abs1 durchschnittlich mehr als 60 Stunden monatlich beträgt;" und ": für Personen, deren Pflegebedarf nach Abs1 durchschnittlich mehr als 85 Stunden monatlich beträgt" in §4 Abs2 BundespflegegeldG idF des BudgetbegleitG 2011, BGBl I 111/2010.
Zulässigkeit des Antrags hinsichtlich dieser Wortfolgen; geringster Eingriff in das Gesamtgefüge der die Stufung des Pflegegeldes betreffenden Regelung.
Im Übrigen Zurückweisung der (Eventual )Anträge. Aufhebung bloß einzelner Ziffern käme einem positiven Rechtsakt gleich. Aufhebung weiterer Bestimmungen zur Beseitigung der geltend gemachten Verfassungswidrigkeit nicht erforderlich; kein untrennbarer Zusammenhang; weitere Bedenken nicht geltend gemacht.
Der Gleichheitssatz bietet keinen Schutz vor (auch nachteiligen) Gesetzesänderungen; Stichhaltigkeit sozialpolitischer Argumente in den Materialien nicht relevant.
Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, auf eine die vffentlichen Haushalte übermäßig belastende Nachfrage nach bestimmten steuerfinanzierten Transferleistungen zu reagieren und den Zugang zu diesen Leistungen zu erschweren. Ein entsprechender Spielraum besteht selbst im Bereich beitragsfinanzierter Leistungen, wie etwa jenen im Recht der gesetzlichen Pensionsversicherung; daher muss ein solcher Spielraum in gleichem oder sogar verstärktem Ausmaß im Bereich nicht beitragsfinanzierter Geldleistungen als gegeben angenommen werden.
Kein Verstoß gegen das bundesstaatliche Berücksichtigungsgebot.
Eine Überschneidung identer Regelungsbereiche und ein daraus sich ergebender Zielkonflikt liegt dann nicht vor, wenn die Regelung der einen Gebietskörperschaft bloß nachteilige Auswirkungen auf den Haushalt der anderen Gebietskörperschaft mit sich bringt (vermehrte Inanspruchnahme von Leistungen des Landes im Rahmen der Sozialhilfe).
Der Bund ist grundsätzlich frei darin, im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenzen einkommenswirksame Regelungen auch dann zu treffen, wenn sie über den Umweg von geminderten Ersatz- oder Unterhaltsansprüchen zu Lastenverschiebungen in den öffentlichen Haushalten führen können. Im vorliegenden Fall auch kein paktierter finanzausgleichsrechtlicher Zusammenhang.
Abweisung des Antrags gem Art138a B-VG auf Feststellung, dass der Bund seine aus Art1 Abs1, Art1 Abs4, Art2 Abs2, Art15 und Art16 der Vereinbarung gemäß Art15a B-VG über gemeinsame Maßnahmen des Bundes und der Länder für pflegebedürftige Personen, BGBl 866/1993, (Pflege-Vereinbarung) resultierenden Verpflichtungen nicht erfüllt hat.
Anwendbarkeit des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (Wiener Vertragsrechtskonvention – WVK, BGBl 40/1980) auf Vereinbarungen nach Art15a B-VG.
Keine ausdrückliche Vereinbarung einer Einschränkung des Gestaltungsspielraums der beteiligten Gesetzgeber im Hinblick auf Details der Zugangsvoraussetzungen zu den einzelnen Stufen in der Pflege-Vereinbarung; keine Bindung des Bundes, Details des BundespflegegeldG unverändert zu lassen.
Es steht daher sowohl den Ländern als auch dem Bund innerhalb einer gewissen Bandbreite, welche durch das Gebot der Einhaltung der Zielsetzungen und Grundsätze der Vereinbarung begrenzt wird, frei, die Personenkreise, aber auch - im hier relevanten Zusammenhang - die materiellen Anspruchsvoraussetzungen zu den einzelnen Stufen des Pflegegeldes oder die Höhe, die gemäß Art2 Abs4 der Art15a B-VG-Vereinbarung im Hinblick auf die Wertanpassung bundeseinheitlich nur bis zum Jahr 1995 vorgegeben war, zu ändern, solange innerhalb des eigenen Kompetenz- und Regelungsbereiches das prinzipielle Ordnungssystem einer Stufung des Pflegegeldes nicht verlassen und die Zielsetzungen der Vereinbarung nicht gefährdet werden.
Keine Überschreitung dieses durch die Vereinbarung offen gelassenen Spielraums und kein vertragswidriges Verlassen des vereinbarten Systems einer nach bestimmten Grundsätzen vorzunehmenden Abstufung des Anspruches auf Pflegegeld durch die hier in Rede stehende Veränderung der Zugangsvoraussetzungen zu zwei von sieben Stufen des Bundespflegegeldes.