G74/11 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Zulässigkeit des Individualantrags eines Zirkusunternehmens auf Aufhebung des Wortes "Zirkussen," in §27 Abs1 TierschutzG, BGBl I 118/2004 idF BGBl I 80/2010 (im Folgenden: TSchG).
Das in §27 Abs1 TSchG normierte - durch §38 Abs3 TSchG verwaltungsstrafbewehrte - Verbot, in Zirkussen in Österreich Wildtiere zu halten oder zur Mitwirkung zu verwenden, hindert die Antragstellerin daran, ihr - in Deutschland zulässiges - Zirkusprogramm in vollem Umfang, also einschließlich der Nummern mit Wildtieren, darzubieten und die Wildtiere im Rahmen ihres Zirkusunternehmens bei der Tournee durch Österreich mitzuführen.
Unmittelbarer und aktueller Eingriff in die Rechtssphäre der Antragstellerin; kein zumutbarer Umweg (Bewilligungsverfahren nach §27 Abs3 TSchG nur für von Wildtieren verschiedene Tiere); Aufhebungsumfang nicht zu eng gefasst (Unterscheidung des TSchG zwischen "Zirkus" und "Variete"; keine ähnlichen Einrichtungen).
Keine Unzulässigkeit des Antrags im Hinblick auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts; kein der angefochtenen Bestimmung entgegenstehendes unmittelbar anwendbares Unionsrecht (Hinweis auf den 41. Erwägungsgrund zur Dienstleistungsrichtlinie und das in einem Verfahren nach Art258 AEUV ergangene Schreiben der Europäischen Kommission betr die Vereinbarkeit des gegenständlichen Verbots mit der Dienstleistungsfreiheit).
Zurückweisung des Individualantrags auf Aufhebung von Teilen des §9 der 2. TierhaltungsV, BGBl II 486/2004 idF
BGBl II 384/2007, (betr das Verbot der Haltung bestimmter Wildtiere) mangels eines unmittelbaren Eingriffs in die Rechtssphäre der Antragstellerin.
Spezielles, aber umfassendes Verbot der Haltung von Wildtieren in Zirkussen gemäß §27 Abs1 TSchG; 2. TierhaltungsV für Zirkusse nur insoweit relevant, als §2 Abs1 der (aufgrund des §27 Abs2 TSchG ergangenen) Tierschutz-ZirkusV ua für die Haltung von Tieren in Zirkussen auf die Mindestanforderungen der 2. TierhaltungsV verweist (insbes für Wirbeltiere, die zur Haltung in menschlicher Obhut geeignet sind); Verbot der Haltung bestimmter Wildtiere in §9 der 2. TierhaltungsV vom Verweis nicht erfasst.
Abweisung des (zulässigen) Antrags.
Keine Anwendung des Staatsbürgervorbehaltes des Art6 StGG wie jenes des Gleichheitsgrundsatzes nach Art7 Abs1 B-VG im Anwendungsbereich des Unionsrechts; Erstreckung des Schutzes der Erwerbsausübungsfreiheit und des Gleichheitsgrundsatzes auf Unionsbürger mit nicht-österreichischer Staatsangehörigkeit bzw juristische Personen mit Sitz im EU-Ausland.
Kein Verstoß gegen die Erwerbsausübungsfreiheit.
Eingriff in die Erwerbsausübungsfreiheit durch die gesetzlichen Vorgaben der Gestaltung der zu Erwerbszwecken erfolgenden Zirkustätigkeit, nämlich nur ohne die Verwendung von Wildtieren, im öffentlichen Interesse zum Schutz des Lebens und des Wohlbefindens der Tiere (§1 TSchG).
Keine Unverhältnismäßigkeit dieser Berufsausübungsregel. Eintritt eines Wertewandels; nach heutiger Auffassung weithin anerkanntes und bedeutsames öffentliches Interesse am Tierschutz.
Der VfGH verkennt nicht, dass auch der langen Tradition der Erwerbs- und Lebensform des Zirkusses (einschließlich historisch immer damit verbunden gewesener Darbietungen mit bestimmten Wildtieren) Gewicht zukommt. Angesichts des dem Gesetzgeber hier zukommenden größeren Gestaltungsspielraums kann der VfGH ihm aber nicht entgegentreten, wenn er heute die Verwendung von Wildtieren in Zirkussen und damit für diese Tiere verbundene Beeinträchtigungen und Belastungen zum Zwecke der Zerstreuung und Belustigung von Menschen nicht mehr hinnehmen will.
Generelles Verbot der Haltung und Verwendung von Wildtieren in Zirkussen daher insbesondere im Hinblick auf die Haltungsbedingungen für Wildtiere und die Belastungen, denen sie durch die einem Zirkus eigenen hohen Maß an Mobilität ausgesetzt sind, erforderlich.
Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Wesentlicher Unterschied zwischen der Haltung von Wildtieren in Zoos und jener in Zirkussen; den Bedürfnissen von Wildtieren entsprechende Anforderungen hinsichtlich der Haltungsbedingungen an Zoos möglich und durchsetzbar. Auch wesentlicher Unterschied hins der Verwendung; Mitwirkung der Tiere bei Dressurakten im Zirkus. Daher keine sachlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung von Gleichem.
Keine nicht im öffentlichen Interesse gelegene oder unverhältnismäßige Eigentumsbeschränkung.
Keine Verletzung der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme zwischen Bund und Ländern.
Das bundesgesetzliche Verbot, Wildtiere in Zirkussen zu halten und zu verwenden, hindert den Landesgesetzgeber nicht, die Tätigkeit von Zirkussen unter veranstaltungsrechtlichen Gesichtspunkten zu regeln. Auch unterläuft der Bundesgesetzgeber hier keine entgegenstehende Regelungsintention des Landesgesetzgebers.