JudikaturVfGH

G140/11 ua - G86/12 ua – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz

Rechtssatz
03. Oktober 2012

Zurückweisung der Anträge auf Aufhebung des §76 Abs2 Z2, des §80 Abs4 Z1 und Z2 sowie des §83 Abs2 Z2 FremdenpolizeiG 2005 (FPG) idF BGBl I 38/2011 aufgrund der nicht ausreichenden Darlegung der Bedenken.

Es ist nicht Aufgabe des VfGH, pauschal vorgetragene Bedenken einzelnen Bestimmungen zuzuordnen und - gleichsam stellvertretend - das Vorbringen für den Antragsteller zu präzisieren. Es genügt nicht, dass vom Antragsteller behauptet wird, dass die bekämpften Gesetzesstellen gegen eine - wenn auch näher bezeichnete - Verfassungsbestimmung verstoßen; es muss vielmehr vom Antragsteller konkret dargelegt werden, aus welchen Gründen den aufzuhebenden Normen die behauptete Verfassungswidrigkeit anzulasten sei.

Bei den Schriftsätzen (zu G55/12 und G72/12) bleibt völlig unklar, wie das allgemein als "verfassungsrechtliche Bedenken" bezeichnete Vorbringen den Anträgen auf Aufhebung einzelner Teile des FPG zugeordnet werden soll. Hinzu kommt, dass die Anträge jeweils zu Beginn und am Ende des Schriftsatzes nicht übereinstimmend formuliert sind. Der Umfang des Aufhebungsbegehrens ist daher nicht nur aus formaler Sicht unklar, auch das inhaltliche Vorbringen des antragstellenden UVS lässt nicht mit hinreichender Deutlichkeit erkennen, worauf die Anträge gerichtet sind.

Zurückweisung des Antrags auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit des §77 Abs1 erster Satz FPG idF BGBl I 135/2009 wegen entschiedener Sache.

Da §77 Abs1 FPG mit der Novelle BGBl I 135/2009 nicht verändert wurde, ist der Antrag, auch im Lichte des übrigen Vorbringens des UVS im Schriftsatz, so zu deuten, dass §77 Abs1 FPG in der Fassung angefochten wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Novelle BGBl I 135/2009 am 01.01.10 in Geltung stand. Zu diesem Zeitpunkt stand §77 Abs1 FPG in seiner Stammfassung BGBl I 100/2005 in Geltung. Über eine Anfechtung dieser Bestimmung in dieser Fassung mit denselben Bedenken durch den UVS für das Land Oberösterreich hat der VfGH aber bereits mit dem Erkenntnis VfSlg 19323/2011 abgesprochen.

Im Übrigen Abweisung der Anträge.

Die Bedenken des UVS ob der Verfassungsmäßigkeit des §76 Abs1 und Abs2 Z1 FPG idF BGBl I 38/2011 sind unbegründet.

Sowohl Art2 Abs1 Z7 PersFrSchG 1988 als auch Art5 Abs1 litf EMRK erlauben Eingriffe in das Recht auf persönliche Freiheit zur Sicherung eines Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahrens. Solche gesetzlichen Eingriffe sind gemäß Art1 Abs3 PersFrSchG 1988 nur dann gerechtfertigt, wenn der Eingriff zum Zweck der Maßnahme notwendig ist und nur soweit der Freiheitsentzug nicht zum Zweck der Maßnahme außer Verhältnis steht. Dieses ausdrücklich formulierte Verhältnismäßigkeitsgebot erlaubt der Behörde also nur dann die Verhängung der Schubhaft, wenn dies zur Sicherung des fremdenpolizeilichen Verfahrens notwendig ist und soweit der Freiheitsentzug nicht zu diesem Zweck außer Verhältnis steht.

Es belastet eine Regelung nicht mit Verfassungswidrigkeit, wenn es der Gesetzgeber - angesichts der sich schon aus dem Grundrecht ergebenden Verpflichtung der Behörden, von der Anordnung der Schubhaft jedenfalls Abstand zu nehmen, wenn sie im Einzelfall nicht notwendig und verhältnismäßig ist - den vollziehenden Behörden (unter der nachprüfenden Kontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts) überlässt, die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung des fremdenpolizeilichen Verfahrens einerseits und der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffenen andererseits vorzunehmen. Im Lichte dessen erweisen sich §76 Abs1 und Abs2 Z1 FPG als das Handeln der Verwaltungsbehörden ausreichend determinierend und die Bedenken des UVS wegen Verletzung des Gleichheitssatzes (der Sache nach gemeint: wohl auch des Legalitätsprinzips des Art18 Abs1 B-VG) und des Rechts auf persönliche Freiheit als unbegründet.

Abweisung auch des Antrags auf Feststellung der Verfassungswidrigkeit des §76 Abs1 erster Satz FPG idF BGBl I 135/2009.

§76 Abs1 FPG wurde durch die Novelle BGBl I 135/2009, die mit 01.01.10 in Kraft trat, nicht verändert. Zu diesem Zeitpunkt stand §76 Abs1 FPG idF BGBl I 122/2009 in Kraft, der sich von der Fassung BGBl I 38/2011 nur dadurch unterschied, dass er Verfahren zur Erlassung von Rückkehrentscheidungen noch nicht als solche Verfahren nannte, die mit Schubhaft gesichert werden konnten. Die vom UVS vorgebrachten Bedenken sind jedoch dieselben wie die gegen §76 Abs1 erster Satz FPG idF BGBl I 38/2011 vorgebrachten, und auch die Beurteilung des VfGH entspricht jener zu §76 Abs1 erster Satz FPG idF BGBl I 38/2011.

Als ebenso unbegründet erweisen sich die Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge ", wenn sie Grund zur Annahme hat, dass der Zweck der Schubhaft durch Anwendung des gelinderen Mittels erreicht werden kann" in §77 Abs1 erster Satz FPG.

Die gesetzliche Anordnung, dass die Behörde gelindere Mittel anzuordnen hat, wenn die Zwecke der Schubhaft auch damit erreicht werden können, gibt der Behörde keine freie Wahlmöglichkeit zwischen der Anordnung gelinderer Mittel und der Verhängung von Schubhaft. Vielmehr ist damit ein klarer Vorrang der Anordnung gelinderer Mittel festgelegt. Dieser Vorrang ist auch verfassungsrechtlich geboten, wie sich aus Art1 Abs3 PersFrSchG 1988 ergibt und wie der VfGH bereits in VfSlg 19323/2011 klargestellt hat. Unter Zugrundelegung dieser verfassungsrechtlich zwingenden Auslegung ist der Inhalt des §77 Abs1 FPG gegenüber der Behörde ausreichend determinierend und differenziert im gebotenen Maße zwischen der Verhängung von Schubhaft und der Anordnung von gelinderen Mitteln.

Die Bedenken des UVS zu §76 und §77 FPG (betr eine Verletzung von Art13 iVm Art5 EMRK) sind nicht nur deshalb unbegründet, da die Bestimmungen Art5 EMRK nicht verletzen; selbst wenn ein Fremder auf Grund von Gesetzen, die gegen die EMRK verstoßen, in Schubhaft genommen würde, hätte er die Möglichkeit, gemäß §82 Abs1 FPG eine Beschwerde beim UVS einzubringen. Der UVS hätte im Rahmen einer solchen Beschwerde gemäß §83 Abs2 Z2 leg cit binnen einer Woche über die Rechtmäßigkeit der Fortsetzung der Schubhaft zu entscheiden. Gegen diesen Bescheid wäre eine Bescheidbeschwerde gemäß Art144 B-VG an den VfGH zulässig, der der VfGH gemäß §85 Abs2 VfGG auf Antrag des Beschwerdeführers aufschiebende Wirkung zuerkennen kann. Selbst wenn die Schubhaft also aufgrund von gegen die EMRK verstoßenden Gesetzen verhängt werden würde, stünde eine den Anforderungen des Art13 EMRK genügende, wirksame Beschwerdemöglichkeit zur Verfügung.

Der Meinung des UVS, dass aufgrund der unklaren Regelungen des §80 Abs2 und Abs4 FPG die im Einzelfall geltende höchst zulässige Schubhaftdauer nicht festzustellen sei, kann sich der VfGH nicht anschließen, da schon aus dem klaren Gesetzeswortlaut des §80 Abs2 FPG abgeleitet werden kann, dass gegen einen Fremden, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, die Schubhaft grundsätzlich für höchstens vier Monate verhängt werden darf (§80 Abs2 Z1 leg cit), soweit kein Fall des Abs3 und Abs4 vorliegt. Die in Abs3 und Abs4 formulierten Fälle sind also als ausdrückliche Ausnahmen zu der in Abs2 Z2 festgelegten höchst zulässigen Dauer der Schubhaft zu verstehen. Der Gesetzgeber hat also eine hinreichend klare Regelung getroffen.

Welche Zuständigkeit mit der Regelung über die höchstzulässige Dauer der zu verhängenden Schubhaft "im Lichte" der Regelung über die amtswegige Überprüfung der Verhältnismäßigkeit (§80 Abs7 FPG) begründet werden soll, kann der VfGH nicht erkennen. Hinsichtlich der Bedenken des UVS, dass es §80 Abs4 FPG den Behörden ermöglichen würde, "ohne jede nähere Differenzierung" in das Recht auf persönliche Freiheit einzugreifen, kann nur erneut auf die Pflicht zur Achtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips bei der Vollziehung des Gesetzes zu jedem Zeitpunkt des Vollzuges der Haft verwiesen werden, die eine solche undifferenzierte Verhängung der Schubhaft verbietet. Die Bedenken gegen §80 Abs4 FPG sind daher unbegründet.

Art6 Abs1 letzter Satz PersFrSchG 1988 fordert, dass die Entscheidung über die Rechtswidrigkeit eines Freiheitsentzuges binnen einer Woche zu ergehen hat. Dieser verfassungsgesetzlichen Anordnung wurde durch §83 Abs2 Z2 FPG für die Fälle der Verhängung der Schubhaft auf einfachgesetzlicher Ebene entsprochen. Wie die - vom UVS behauptete - faktische Überforderung des zur Entscheidung berufenen Organs, die zu einer Missachtung der (einfachgesetzlich und verfassungsgesetzlich vorgesehenen) Frist führt, auf die Verfassungsmäßigkeit der einfachgesetzlichen Bestimmung zurückwirken soll, kann der VfGH angesichts der Vorgabe der Frist durch den Wortlaut der Verfassungsbestimmung nicht nachvollziehen.

G86/12 ua, B v 10.10.12: Zurückweisung weiterer Anträge des UVS Oberösterreich wegen entschiedener Sache bzw mangels Darlegung der Bedenken im Einzelnen.

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