G23/12 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Rechtssatz
Aufhebung des Wortes "unehelichen" in §72 Abs1 StGB idF BGBl I 135/2009.
Das antragstellende Rechtsmittelgericht hat im anhängigen Berufungsverfahren zu beurteilen, ob der Angeklagte als Angehöriger iSd §299 Abs3 StGB (betr Straflosigkeit bei Begünstigung) anzusehen ist. Der Personenkreis der Angehörigen ist in §72 Abs1 StGB umschrieben.
Legaldefinitionen kommt in der Regel keine eigenständige normative Bedeutung zu.
Im konkreten Fall erweist sich allerdings, dass der Aufhebungsantrag zulässigerweise nur auf das Wort "unehelichen" in §72 Abs1 StGB bezogen und daher nicht zu eng gefasst wurde.
Unter der Prämisse, dass der VfGH den Bedenken des OLG Wien folgt, würde nämlich die Aufhebung des Wortes "unehelichen" in der Definition des §72 Abs1 StGB genügen, um die - behauptete - Verfassungswidrigkeit zu beseitigen, ohne dass Teile der präjudiziellen, "Angehörige" schlechthin begünstigenden Bestimmung des §299 Abs3 StGB - die das antragstellende Gericht nicht für verfassungswidrig hält - mit aufgehoben werden müssten, weil weder diese Vorschrift (noch die übrigen auf Angehörige iSd §72 Abs1 StGB bezogenen Regelungen des StGB) nach der bereinigten Rechtslage einen anderen Sinngehalt erhielten; vielmehr würde die Beseitigung des angefochtenen Wortes hinreichen, um die Rechtslage für den Anlassfall soweit zu bereinigen, dass die geltend gemachten Bedenken nicht mehr bestünden.
Zwar kann das Unterlassen einer kraft Gleichheitssatzes notwendigen, vom Gesetzgeber aber unterlassenen rechtlichen Regelung grundsätzlich durch Heranziehung vergleichbarer Tatbestände per analogiam korrigiert werden; eine derartige Lückenschließung wäre zugunsten des Angeklagten auch im Strafrecht zulässig. Angesichts des systematischen Zusammenhanges der angefochtenen Gesetzesstelle und der Entstehungsgeschichte des §72 Abs1 StGB ist jedoch keine dem Gesetzgeber versehentlich unterlaufene Unvollständigkeit der Regelung anzunehmen.
Die zunächst noch in der Regierungsvorlage zum Strafgesetzbuch vorgesehene Regelung sah unabhängig von gemeinsamen Nachkommen die Beibehaltung der Angehörigeneigenschaft von Geschiedenen vor (RV 30 BlgNR 13. GP). Diese Bestimmung entfiel nach Beratung im Justizausschuss, weil "das Angehörigenverhältnis den Täter grundsätzlich begünstige und eine solche Begünstigung nach Auflösung des ehelichen Verhältnisses nicht mehr zu begründen sei". Unter einem wurde im Sinne des Vorschlags des Justizausschusses in Bezug auf den Tatbestand des Aussagenotstandes nach §290 Abs2 StGB (und nur in diesem) ausdrücklich normiert, dass die Angehörigeneigenschaft nach Auflösung der Ehe bestehen bleibt.
Die auf Vater und Mutter eines gemeinsamen unehelichen Kindes bezogene Regelung der Angehörigeneigenschaft steht seit der Stammfassung des StGB unverändert in Geltung. Die Aufnahme dieser Personen in den Angehörigenkreis wird in den Materialien mit "soziologischen Tatsachen" und der Weiterentwicklung des Familienrechts erklärt.
Der Gesetzgeber hat die Bestimmung des §72 StGB zweimal novelliert (vgl BGBl I 153/1998 und BGBl I 135/2009). Diese Novellen wurden ebenso wenig wie andere zahlreich erfolgte Novellierungen des StGB zum Anlass genommen, geschiedenen Eltern ehelicher Kinder die Angehörigeneigenschaft ausdrücklich zuzuerkennen, sondern es blieb die seit der Stammfassung des StGB geltende Regelung des Angehörigenverhältnisses in Bezug auf Elternteile unehelicher Kinder in §72 Abs1 StGB unverändert aufrecht, obwohl dem Gesetzgeber die vorliegende Problematik seit langem bekannt sein musste.
Vor diesem Hintergrund kann vom Vorliegen einer "echten" (planwidrigen) Lücke im Sinne einer bloßen Unzulänglichkeit der Norm nicht ausgegangen werden.
Es ist kein sachlicher Grund erkennbar, der es rechtfertigen würde, Eltern unehelicher Kinder in Bezug auf ihren Angehörigenstatus dauerhaft zu begünstigen, Elternteilen ehelicher Kinder hingegen nach Auflösung der Ehe die (bis dahin bestandene) Angehörigeneigenschaft zu nehmen. Durch die Aufhebung des Wortes "unehelichen" in §72 Abs1 StGB wird die verfassungskonforme Gleichstellung von Elternteilen ehelicher Kinder nach Beendigung der Ehe mit Elternteilen gemeinsamer unehelicher Kinder in Bezug auf die zueinander bestehende Angehörigeneigenschaft bewirkt.